Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite

aber nicht wissenschaftliches, sondern ästhetisches. Die "Gestalt" hatte
von Anfang an sein künstlerisches Interesse erregt, und wie er für die
künstlerische Verkörperung gewisser idealer Charaktere, z. B. in Sta-
tuen, das dieselben bezeichnende Typische in der Form zu suchen bemüht
war, wie er aus gleichem Antriebe die physiognomischen Studien La-
vater
's so lebhaft zu fördern suchte, so ergriff ihn auch für die thierischen
Gestalten der Gedanke, ein idealer Typus möge die Verschiedenheiten
zu einem wohlthuenden künstlerischen Ausgleich bringen. Diese in ihm
und seiner ganzen Persönlichkeit sich vollziehende Verschmelzung der
Naturauffassung mit dem Kunstbedürfniß war es auch, welche trotz der
späteren Veröffentlichung seiner Betrachtungen noch mächtig auf seine
Zeitgenossen und Jünger einwirkte. Besonders erklärlich wird die
Wirkung, wenn man sich den Nachhall des noch nicht durchgereiften
französischen Sensualismus, den ernüchternden Einfluß der französischen
Revolution, das von Frankreich aus über Deutschland hereingebrochene
Unglück vergegenwärtigt und bedenkt, welchen Jubel es erregen mußte,
zu sehn, wie nach Deutschlands vorübergehender politischer Erhebung
jene eigenthümliche nationale, sinnig-poetische, idealistisch vergeistigte
Weltanschauung vom größten Dichter auch auf die Betrachtung der
Natur mit Bewußtsein angewendet wurde, oder vielmehr angewendet
worden war. Denn von seinen Arbeiten war mit Ausnahme der
Schrift über die Metamorphose der Pflanzen und der nur brieflich
mitgetheilten Arbeit8) über den Zwischenkiefer beim Menschen vor 1817
nichts gedruckt, seine Ansichten nur in Freundeskreisen besprochen,
weder gelehrt noch sonst öffentlich mitgetheilt worden; auch hat er über
Manches absichtlich geschwiegen. Dagegen muß man sich erinnern,
daß vor 1817 sowohl Geoffroy's Arbeiten über die Maki's, die Croco-
dile, den Fischschädel u. A., als auch Lamarck's und Cuvier's bahn-
brechende und die ganze Wissenschaft umgestaltende Werke bereits er-
schienen waren. Wie man aber Niemand eine Entdeckung zuschreiben
kann, ehe man weiß, daß er sie gemacht hat, so kann man auch Goethe

8) Sömmerring führt sie in der zweiten Aufl. der Knochenlehre an, ebenso
Tiedemann, Zoologie. Bd. 1. S. 234. Anm. (1808). Letzteres Citat ruft den
Schein hervor, als sei die Arbeit veröffentlicht.

aber nicht wiſſenſchaftliches, ſondern äſthetiſches. Die „Geſtalt“ hatte
von Anfang an ſein künſtleriſches Intereſſe erregt, und wie er für die
künſtleriſche Verkörperung gewiſſer idealer Charaktere, z. B. in Sta-
tuen, das dieſelben bezeichnende Typiſche in der Form zu ſuchen bemüht
war, wie er aus gleichem Antriebe die phyſiognomiſchen Studien La-
vater
's ſo lebhaft zu fördern ſuchte, ſo ergriff ihn auch für die thieriſchen
Geſtalten der Gedanke, ein idealer Typus möge die Verſchiedenheiten
zu einem wohlthuenden künſtleriſchen Ausgleich bringen. Dieſe in ihm
und ſeiner ganzen Perſönlichkeit ſich vollziehende Verſchmelzung der
Naturauffaſſung mit dem Kunſtbedürfniß war es auch, welche trotz der
ſpäteren Veröffentlichung ſeiner Betrachtungen noch mächtig auf ſeine
Zeitgenoſſen und Jünger einwirkte. Beſonders erklärlich wird die
Wirkung, wenn man ſich den Nachhall des noch nicht durchgereiften
franzöſiſchen Senſualismus, den ernüchternden Einfluß der franzöſiſchen
Revolution, das von Frankreich aus über Deutſchland hereingebrochene
Unglück vergegenwärtigt und bedenkt, welchen Jubel es erregen mußte,
zu ſehn, wie nach Deutſchlands vorübergehender politiſcher Erhebung
jene eigenthümliche nationale, ſinnig-poetiſche, idealiſtiſch vergeiſtigte
Weltanſchauung vom größten Dichter auch auf die Betrachtung der
Natur mit Bewußtſein angewendet wurde, oder vielmehr angewendet
worden war. Denn von ſeinen Arbeiten war mit Ausnahme der
Schrift über die Metamorphoſe der Pflanzen und der nur brieflich
mitgetheilten Arbeit8) über den Zwiſchenkiefer beim Menſchen vor 1817
nichts gedruckt, ſeine Anſichten nur in Freundeskreiſen beſprochen,
weder gelehrt noch ſonſt öffentlich mitgetheilt worden; auch hat er über
Manches abſichtlich geſchwiegen. Dagegen muß man ſich erinnern,
daß vor 1817 ſowohl Geoffroy's Arbeiten über die Maki's, die Croco-
dile, den Fiſchſchädel u. A., als auch Lamarck's und Cuvier's bahn-
brechende und die ganze Wiſſenſchaft umgeſtaltende Werke bereits er-
ſchienen waren. Wie man aber Niemand eine Entdeckung zuſchreiben
kann, ehe man weiß, daß er ſie gemacht hat, ſo kann man auch Goethe

8) Sömmerring führt ſie in der zweiten Aufl. der Knochenlehre an, ebenſo
Tiedemann, Zoologie. Bd. 1. S. 234. Anm. (1808). Letzteres Citat ruft den
Schein hervor, als ſei die Arbeit veröffentlicht.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0602" n="591"/><fw place="top" type="header"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118540238">Goethe</persName>.</fw><lb/>
aber nicht wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliches, &#x017F;ondern ä&#x017F;theti&#x017F;ches. Die &#x201E;Ge&#x017F;talt&#x201C; hatte<lb/>
von Anfang an &#x017F;ein kün&#x017F;tleri&#x017F;ches Intere&#x017F;&#x017F;e erregt, und wie er für die<lb/>
kün&#x017F;tleri&#x017F;che Verkörperung gewi&#x017F;&#x017F;er idealer Charaktere, z. B. in Sta-<lb/>
tuen, das die&#x017F;elben bezeichnende Typi&#x017F;che in der Form zu &#x017F;uchen bemüht<lb/>
war, wie er aus gleichem Antriebe die phy&#x017F;iognomi&#x017F;chen Studien <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118570293">La-<lb/>
vater</persName>'s &#x017F;o lebhaft zu fördern &#x017F;uchte, &#x017F;o ergriff ihn auch für die thieri&#x017F;chen<lb/>
Ge&#x017F;talten der Gedanke, ein idealer Typus möge die Ver&#x017F;chiedenheiten<lb/>
zu einem wohlthuenden kün&#x017F;tleri&#x017F;chen Ausgleich bringen. Die&#x017F;e in ihm<lb/>
und &#x017F;einer ganzen Per&#x017F;önlichkeit &#x017F;ich vollziehende Ver&#x017F;chmelzung der<lb/>
Naturauffa&#x017F;&#x017F;ung mit dem Kun&#x017F;tbedürfniß war es auch, welche trotz der<lb/>
&#x017F;päteren Veröffentlichung &#x017F;einer Betrachtungen noch mächtig auf &#x017F;eine<lb/>
Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en und Jünger einwirkte. Be&#x017F;onders erklärlich wird die<lb/>
Wirkung, wenn man &#x017F;ich den Nachhall des noch nicht durchgereiften<lb/>
franzö&#x017F;i&#x017F;chen Sen&#x017F;ualismus, den ernüchternden Einfluß der franzö&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Revolution, das von Frankreich aus über <placeName>Deut&#x017F;chland</placeName> hereingebrochene<lb/>
Unglück vergegenwärtigt und bedenkt, welchen Jubel es erregen mußte,<lb/>
zu &#x017F;ehn, wie nach <placeName>Deut&#x017F;chlands</placeName> vorübergehender politi&#x017F;cher Erhebung<lb/>
jene eigenthümliche nationale, &#x017F;innig-poeti&#x017F;che, ideali&#x017F;ti&#x017F;ch vergei&#x017F;tigte<lb/>
Weltan&#x017F;chauung vom größten Dichter auch auf die Betrachtung der<lb/>
Natur mit Bewußt&#x017F;ein angewendet wurde, oder vielmehr angewendet<lb/>
worden war. Denn von &#x017F;einen Arbeiten war mit Ausnahme der<lb/>
Schrift über die Metamorpho&#x017F;e der Pflanzen und der nur brieflich<lb/>
mitgetheilten Arbeit<note place="foot" n="8)"><hi rendition="#g">Sömmerring</hi> führt &#x017F;ie in der zweiten Aufl. der Knochenlehre an, eben&#x017F;o<lb/><hi rendition="#g"><persName ref="http://d-nb.info/gnd/118867733">Tiedemann</persName></hi>, Zoologie. Bd. 1. S. 234. Anm. (1808). Letzteres Citat ruft den<lb/>
Schein hervor, als &#x017F;ei die Arbeit veröffentlicht.</note> über den Zwi&#x017F;chenkiefer beim Men&#x017F;chen vor 1817<lb/>
nichts gedruckt, &#x017F;eine An&#x017F;ichten nur in Freundeskrei&#x017F;en be&#x017F;prochen,<lb/>
weder gelehrt noch &#x017F;on&#x017F;t öffentlich mitgetheilt worden; auch hat er über<lb/>
Manches ab&#x017F;ichtlich ge&#x017F;chwiegen. Dagegen muß man &#x017F;ich erinnern,<lb/>
daß vor 1817 &#x017F;owohl <persName ref="http://d-nb.info/gnd/102522073">Geoffroy</persName>'s Arbeiten über die Maki's, die Croco-<lb/>
dile, den Fi&#x017F;ch&#x017F;chädel u. A., als auch <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118726048">Lamarck</persName>'s und <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118677578">Cuvier</persName>'s bahn-<lb/>
brechende und die ganze Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft umge&#x017F;taltende Werke bereits er-<lb/>
&#x017F;chienen waren. Wie man aber Niemand eine Entdeckung zu&#x017F;chreiben<lb/>
kann, ehe man weiß, daß er &#x017F;ie gemacht hat, &#x017F;o kann man auch <persName ref="http://d-nb.info/gnd/118540238">Goethe</persName><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[591/0602] Goethe. aber nicht wiſſenſchaftliches, ſondern äſthetiſches. Die „Geſtalt“ hatte von Anfang an ſein künſtleriſches Intereſſe erregt, und wie er für die künſtleriſche Verkörperung gewiſſer idealer Charaktere, z. B. in Sta- tuen, das dieſelben bezeichnende Typiſche in der Form zu ſuchen bemüht war, wie er aus gleichem Antriebe die phyſiognomiſchen Studien La- vater's ſo lebhaft zu fördern ſuchte, ſo ergriff ihn auch für die thieriſchen Geſtalten der Gedanke, ein idealer Typus möge die Verſchiedenheiten zu einem wohlthuenden künſtleriſchen Ausgleich bringen. Dieſe in ihm und ſeiner ganzen Perſönlichkeit ſich vollziehende Verſchmelzung der Naturauffaſſung mit dem Kunſtbedürfniß war es auch, welche trotz der ſpäteren Veröffentlichung ſeiner Betrachtungen noch mächtig auf ſeine Zeitgenoſſen und Jünger einwirkte. Beſonders erklärlich wird die Wirkung, wenn man ſich den Nachhall des noch nicht durchgereiften franzöſiſchen Senſualismus, den ernüchternden Einfluß der franzöſiſchen Revolution, das von Frankreich aus über Deutſchland hereingebrochene Unglück vergegenwärtigt und bedenkt, welchen Jubel es erregen mußte, zu ſehn, wie nach Deutſchlands vorübergehender politiſcher Erhebung jene eigenthümliche nationale, ſinnig-poetiſche, idealiſtiſch vergeiſtigte Weltanſchauung vom größten Dichter auch auf die Betrachtung der Natur mit Bewußtſein angewendet wurde, oder vielmehr angewendet worden war. Denn von ſeinen Arbeiten war mit Ausnahme der Schrift über die Metamorphoſe der Pflanzen und der nur brieflich mitgetheilten Arbeit 8) über den Zwiſchenkiefer beim Menſchen vor 1817 nichts gedruckt, ſeine Anſichten nur in Freundeskreiſen beſprochen, weder gelehrt noch ſonſt öffentlich mitgetheilt worden; auch hat er über Manches abſichtlich geſchwiegen. Dagegen muß man ſich erinnern, daß vor 1817 ſowohl Geoffroy's Arbeiten über die Maki's, die Croco- dile, den Fiſchſchädel u. A., als auch Lamarck's und Cuvier's bahn- brechende und die ganze Wiſſenſchaft umgeſtaltende Werke bereits er- ſchienen waren. Wie man aber Niemand eine Entdeckung zuſchreiben kann, ehe man weiß, daß er ſie gemacht hat, ſo kann man auch Goethe 8) Sömmerring führt ſie in der zweiten Aufl. der Knochenlehre an, ebenſo Tiedemann, Zoologie. Bd. 1. S. 234. Anm. (1808). Letzteres Citat ruft den Schein hervor, als ſei die Arbeit veröffentlicht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/602
Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 591. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/602>, abgerufen am 24.07.2024.