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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Periode der Morphologie.
gen. Mit Bezug auf die Zoologie treten als solche die thierischen For-
menverhältnisse um so mehr hervor, je weiter die Physiologie in dem
Nachweise der wesentlichen Uebereinstimmung der Leistungen der Thier-
körper mit den in der nicht belebten Natur ablaufenden Processen fort-
schreitet. Eine Erscheinung kann aber nur erklärt werden, wenn sie
hinsichtlich ihrer Form nach allen Einzelnheiten erkannt ist. Newton
konnte die Bewegungserscheinungen im Sonnensystem erst erklären,
weil und nachdem Keppler die Form der Planetenbahnen bestimmt
hatte. Es ist der Charakter des hier noch zu schildernden Zeitraums,
daß die sichere Erkenntniß der thierischen Gestaltungsgesetze zu der
immer schärfer erkannten und immer glücklicher bearbeiteten Aufgabe
der Zoologie wurde. Auch hier ist es für den nach einem Abschlusse
seiner Anschauungen drängenden menschlichen Geist bezeichnend, daß
schon vor der definitiven Lösung dieser Aufgabe Versuche gemacht wur-
den zur Erklärung der thierischen Gestalten, d. h. zum Nachweise ihrer
nothwendigen Abhängigkeit von gewissen Bedingungen.

Die ersten in diesen Zeitraum fallenden vergleichend-anatomischen
Arbeiten tragen noch deutlich die Zeichen der Nachwirkung früherer
Einflüsse. Die Bonnet-Buffon'sche Idee eines allgemeinen einheitlichen
Planes wurde zwar von einigen, besonnen die Thatsachen berücksichti-
genden Forschern als nur in den Functionen nachweisbar erkannt, von
Etienne Geoffroy aber, dem Goethe beistimmt, auch auf die Form aus-
gedehnt, hierdurch die Anerkennung der vergleichenden Methode stark
beeinträchtigend. Dem gegenüber wirft die Aufstellung mehrerer Typen
für das ganze Thierreich neues Licht auf alle zootomischen Thatsachen.
Wurde hierdurch die Lehre von den thierischen Formen, welcher von
nun an auch das System zu folgen hatte, in eine Bahn gebracht, auf
welcher sie inductorisch immer weiter befestigt werden konnte, so fühlte
auf der andern Seite das durch Kant's großartige Leistungen in der
Philosophie und die sich an ihn reihenden häufig misverständlichen Er-
weiterungen hervorgerufene rege Leben der Philosophie zu einem eigen-
thümlichen Auswuchse der Naturbetrachtung, der sogenannten Natur-
philosophie Schelling's und Oken's. Wenn man ihr einen anregenden
Einfluß zugeschrieben hat, so verdankt sie denselben nicht ihrem philoso-

Periode der Morphologie.
gen. Mit Bezug auf die Zoologie treten als ſolche die thieriſchen For-
menverhältniſſe um ſo mehr hervor, je weiter die Phyſiologie in dem
Nachweiſe der weſentlichen Uebereinſtimmung der Leiſtungen der Thier-
körper mit den in der nicht belebten Natur ablaufenden Proceſſen fort-
ſchreitet. Eine Erſcheinung kann aber nur erklärt werden, wenn ſie
hinſichtlich ihrer Form nach allen Einzelnheiten erkannt iſt. Newton
konnte die Bewegungserſcheinungen im Sonnenſyſtem erſt erklären,
weil und nachdem Keppler die Form der Planetenbahnen beſtimmt
hatte. Es iſt der Charakter des hier noch zu ſchildernden Zeitraums,
daß die ſichere Erkenntniß der thieriſchen Geſtaltungsgeſetze zu der
immer ſchärfer erkannten und immer glücklicher bearbeiteten Aufgabe
der Zoologie wurde. Auch hier iſt es für den nach einem Abſchluſſe
ſeiner Anſchauungen drängenden menſchlichen Geiſt bezeichnend, daß
ſchon vor der definitiven Löſung dieſer Aufgabe Verſuche gemacht wur-
den zur Erklärung der thieriſchen Geſtalten, d. h. zum Nachweiſe ihrer
nothwendigen Abhängigkeit von gewiſſen Bedingungen.

Die erſten in dieſen Zeitraum fallenden vergleichend-anatomiſchen
Arbeiten tragen noch deutlich die Zeichen der Nachwirkung früherer
Einflüſſe. Die Bonnet-Buffon'ſche Idee eines allgemeinen einheitlichen
Planes wurde zwar von einigen, beſonnen die Thatſachen berückſichti-
genden Forſchern als nur in den Functionen nachweisbar erkannt, von
Étienne Geoffroy aber, dem Goethe beiſtimmt, auch auf die Form aus-
gedehnt, hierdurch die Anerkennung der vergleichenden Methode ſtark
beeinträchtigend. Dem gegenüber wirft die Aufſtellung mehrerer Typen
für das ganze Thierreich neues Licht auf alle zootomiſchen Thatſachen.
Wurde hierdurch die Lehre von den thieriſchen Formen, welcher von
nun an auch das Syſtem zu folgen hatte, in eine Bahn gebracht, auf
welcher ſie inductoriſch immer weiter befeſtigt werden konnte, ſo fühlte
auf der andern Seite das durch Kant's großartige Leiſtungen in der
Philoſophie und die ſich an ihn reihenden häufig misverſtändlichen Er-
weiterungen hervorgerufene rege Leben der Philoſophie zu einem eigen-
thümlichen Auswuchſe der Naturbetrachtung, der ſogenannten Natur-
philoſophie Schelling's und Oken's. Wenn man ihr einen anregenden
Einfluß zugeſchrieben hat, ſo verdankt ſie denſelben nicht ihrem philoſo-

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[574/0585] Periode der Morphologie. gen. Mit Bezug auf die Zoologie treten als ſolche die thieriſchen For- menverhältniſſe um ſo mehr hervor, je weiter die Phyſiologie in dem Nachweiſe der weſentlichen Uebereinſtimmung der Leiſtungen der Thier- körper mit den in der nicht belebten Natur ablaufenden Proceſſen fort- ſchreitet. Eine Erſcheinung kann aber nur erklärt werden, wenn ſie hinſichtlich ihrer Form nach allen Einzelnheiten erkannt iſt. Newton konnte die Bewegungserſcheinungen im Sonnenſyſtem erſt erklären, weil und nachdem Keppler die Form der Planetenbahnen beſtimmt hatte. Es iſt der Charakter des hier noch zu ſchildernden Zeitraums, daß die ſichere Erkenntniß der thieriſchen Geſtaltungsgeſetze zu der immer ſchärfer erkannten und immer glücklicher bearbeiteten Aufgabe der Zoologie wurde. Auch hier iſt es für den nach einem Abſchluſſe ſeiner Anſchauungen drängenden menſchlichen Geiſt bezeichnend, daß ſchon vor der definitiven Löſung dieſer Aufgabe Verſuche gemacht wur- den zur Erklärung der thieriſchen Geſtalten, d. h. zum Nachweiſe ihrer nothwendigen Abhängigkeit von gewiſſen Bedingungen. Die erſten in dieſen Zeitraum fallenden vergleichend-anatomiſchen Arbeiten tragen noch deutlich die Zeichen der Nachwirkung früherer Einflüſſe. Die Bonnet-Buffon'ſche Idee eines allgemeinen einheitlichen Planes wurde zwar von einigen, beſonnen die Thatſachen berückſichti- genden Forſchern als nur in den Functionen nachweisbar erkannt, von Étienne Geoffroy aber, dem Goethe beiſtimmt, auch auf die Form aus- gedehnt, hierdurch die Anerkennung der vergleichenden Methode ſtark beeinträchtigend. Dem gegenüber wirft die Aufſtellung mehrerer Typen für das ganze Thierreich neues Licht auf alle zootomiſchen Thatſachen. Wurde hierdurch die Lehre von den thieriſchen Formen, welcher von nun an auch das Syſtem zu folgen hatte, in eine Bahn gebracht, auf welcher ſie inductoriſch immer weiter befeſtigt werden konnte, ſo fühlte auf der andern Seite das durch Kant's großartige Leiſtungen in der Philoſophie und die ſich an ihn reihenden häufig misverſtändlichen Er- weiterungen hervorgerufene rege Leben der Philoſophie zu einem eigen- thümlichen Auswuchſe der Naturbetrachtung, der ſogenannten Natur- philoſophie Schelling's und Oken's. Wenn man ihr einen anregenden Einfluß zugeſchrieben hat, ſo verdankt ſie denſelben nicht ihrem philoſo-

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 574. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/585>, abgerufen am 22.11.2024.