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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Die Zoologie des Mittelalters.
reiche und durch seine Beziehungen zu Gregor VII und dessen Bestre-
bungen zur Erweiterung der päbstlichen Macht für das Mittelalter so
wichtige Mann (geb. 1006, gest. 1072) hat unter seinen Schriften er-
baulichen Inhalts auch eine Abhandlung hinterlassen darüber, daß der
Schöpfer der Natur auch die Natur und ihre Wege abändern könne.
Dies belegt er unter andern damit, daß auch an einem Baume Vögel
entstehen könnten, wie es auf der Insel Thilon in Indien der Fall sei.
Wegen dieser Verlegung der Fabel nach Indien hält Schneider die
betreffende Stelle für verderbt, wofür indeß kein rechter Grund ange-
führt werden kann. Ueber verschiedene Handschriften und Textrecensio-
nen des Peter Damiani ist freilich nichts bekannt. Doch ist dies nicht
das einzige Zeugniß, welches die Fabel nach dem Orient verweist. In
der Hauptschrift der Kabbalistik, dem Sohar, wird II, 156 erzählt, der
Rabbi Abba habe einen Baum gesehen, aus dessen Früchten Vögel ab-
geflogen seien. Der Sohar ist in den Schulchan Aruch aufgenommen
worden und so findet sich denn jene Stelle auch in diesem halachischen
Hauptwerke wieder (Jore Deah, 84, 15)169). Nun wurde allerdings
der Schulchan Aruch erst 1522 von Josef Karo in Nikopoli verfaßt;
der Sohar wurde aber ganz in ihn einverleibt. Dieser ist der Sage
nach schon im zweiten Jahrhundert von Simeon ben Jochai verfaßt
worden, der Kritik nach war er aber erst im elften Jahrhundert fertig.
Jellinek will Moses ben Schem Tob de Leon als Verfasser ansehen
und weist ihn deshalb in das dreizehnte Jahrhundert. Doch hat dieser,
welcher wahrscheinlich den ganzen Sohar besaß, vermuthlich nach und
nach einzelne Theile desselben handschriftlich ausgegeben und dadurch
den Schein erweckt, als habe er ihn verfertigt. Für diese Ansicht spricht
besonders die von Loria angeführte Thatsache, daß die rabbinischen
Gutachten der Gaonim zu Babel, welche bis zum Jahre 1000, aber

1783. Tom. III. p. 631: " unde et terra illa (insula Indiae Thilon) occiduis
partibus hanc consecuta est dignitatem ut ex arborum ramis volucres pro-
deant".
169) Die Stelle aus dem Sohar s. bei Jellinek, Beiträge zur Geschichte der
Kabbala. Leipzig, 1852. S. 48, aus dem Schulchan Aruch bei Lewysohn, Zoo-
logie des Talmud. Frankfurt a. M. 1858. S. 362. Hier wird übrigens Jacobus
de Vitriaco (episcopus acconensis) zu einem episcopus atheniensis.

Die Zoologie des Mittelalters.
reiche und durch ſeine Beziehungen zu Gregor VII und deſſen Beſtre-
bungen zur Erweiterung der päbſtlichen Macht für das Mittelalter ſo
wichtige Mann (geb. 1006, geſt. 1072) hat unter ſeinen Schriften er-
baulichen Inhalts auch eine Abhandlung hinterlaſſen darüber, daß der
Schöpfer der Natur auch die Natur und ihre Wege abändern könne.
Dies belegt er unter andern damit, daß auch an einem Baume Vögel
entſtehen könnten, wie es auf der Inſel Thilon in Indien der Fall ſei.
Wegen dieſer Verlegung der Fabel nach Indien hält Schneider die
betreffende Stelle für verderbt, wofür indeß kein rechter Grund ange-
führt werden kann. Ueber verſchiedene Handſchriften und Textrecenſio-
nen des Peter Damiani iſt freilich nichts bekannt. Doch iſt dies nicht
das einzige Zeugniß, welches die Fabel nach dem Orient verweiſt. In
der Hauptſchrift der Kabbaliſtik, dem Sohar, wird II, 156 erzählt, der
Rabbi Abba habe einen Baum geſehen, aus deſſen Früchten Vögel ab-
geflogen ſeien. Der Sohar iſt in den Schulchan Aruch aufgenommen
worden und ſo findet ſich denn jene Stelle auch in dieſem halachiſchen
Hauptwerke wieder (Jore Deah, 84, 15)169). Nun wurde allerdings
der Schulchan Aruch erſt 1522 von Joſef Karo in Nikopoli verfaßt;
der Sohar wurde aber ganz in ihn einverleibt. Dieſer iſt der Sage
nach ſchon im zweiten Jahrhundert von Simeon ben Jochai verfaßt
worden, der Kritik nach war er aber erſt im elften Jahrhundert fertig.
Jellinek will Moſes ben Schem Tob de Leon als Verfaſſer anſehen
und weiſt ihn deshalb in das dreizehnte Jahrhundert. Doch hat dieſer,
welcher wahrſcheinlich den ganzen Sohar beſaß, vermuthlich nach und
nach einzelne Theile deſſelben handſchriftlich ausgegeben und dadurch
den Schein erweckt, als habe er ihn verfertigt. Für dieſe Anſicht ſpricht
beſonders die von Loria angeführte Thatſache, daß die rabbiniſchen
Gutachten der Gaonim zu Babel, welche bis zum Jahre 1000, aber

1783. Tom. III. p. 631: „ unde et terra illa (insula Indiae Thilon) occiduis
partibus hanc consecuta est dignitatem ut ex arborum ramis volucres pro-
deant“.
169) Die Stelle aus dem Sohar ſ. bei Jellinek, Beiträge zur Geſchichte der
Kabbala. Leipzig, 1852. S. 48, aus dem Schulchan Aruch bei Lewyſohn, Zoo-
logie des Talmud. Frankfurt a. M. 1858. S. 362. Hier wird übrigens Jacobus
de Vitriaco (episcopus acconensis) zu einem episcopus atheniensis.
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[194/0205] Die Zoologie des Mittelalters. reiche und durch ſeine Beziehungen zu Gregor VII und deſſen Beſtre- bungen zur Erweiterung der päbſtlichen Macht für das Mittelalter ſo wichtige Mann (geb. 1006, geſt. 1072) hat unter ſeinen Schriften er- baulichen Inhalts auch eine Abhandlung hinterlaſſen darüber, daß der Schöpfer der Natur auch die Natur und ihre Wege abändern könne. Dies belegt er unter andern damit, daß auch an einem Baume Vögel entſtehen könnten, wie es auf der Inſel Thilon in Indien der Fall ſei. Wegen dieſer Verlegung der Fabel nach Indien hält Schneider die betreffende Stelle für verderbt, wofür indeß kein rechter Grund ange- führt werden kann. Ueber verſchiedene Handſchriften und Textrecenſio- nen des Peter Damiani iſt freilich nichts bekannt. Doch iſt dies nicht das einzige Zeugniß, welches die Fabel nach dem Orient verweiſt. In der Hauptſchrift der Kabbaliſtik, dem Sohar, wird II, 156 erzählt, der Rabbi Abba habe einen Baum geſehen, aus deſſen Früchten Vögel ab- geflogen ſeien. Der Sohar iſt in den Schulchan Aruch aufgenommen worden und ſo findet ſich denn jene Stelle auch in dieſem halachiſchen Hauptwerke wieder (Jore Deah, 84, 15) 169). Nun wurde allerdings der Schulchan Aruch erſt 1522 von Joſef Karo in Nikopoli verfaßt; der Sohar wurde aber ganz in ihn einverleibt. Dieſer iſt der Sage nach ſchon im zweiten Jahrhundert von Simeon ben Jochai verfaßt worden, der Kritik nach war er aber erſt im elften Jahrhundert fertig. Jellinek will Moſes ben Schem Tob de Leon als Verfaſſer anſehen und weiſt ihn deshalb in das dreizehnte Jahrhundert. Doch hat dieſer, welcher wahrſcheinlich den ganzen Sohar beſaß, vermuthlich nach und nach einzelne Theile deſſelben handſchriftlich ausgegeben und dadurch den Schein erweckt, als habe er ihn verfertigt. Für dieſe Anſicht ſpricht beſonders die von Loria angeführte Thatſache, daß die rabbiniſchen Gutachten der Gaonim zu Babel, welche bis zum Jahre 1000, aber 168) 169) Die Stelle aus dem Sohar ſ. bei Jellinek, Beiträge zur Geſchichte der Kabbala. Leipzig, 1852. S. 48, aus dem Schulchan Aruch bei Lewyſohn, Zoo- logie des Talmud. Frankfurt a. M. 1858. S. 362. Hier wird übrigens Jacobus de Vitriaco (episcopus acconensis) zu einem episcopus atheniensis. 168) 1783. Tom. III. p. 631: „ unde et terra illa (insula Indiae Thilon) occiduis partibus hanc consecuta est dignitatem ut ex arborum ramis volucres pro- deant“.

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/205>, abgerufen am 15.05.2024.