Zeugniß, wie allmählich die freiere und natürlichere Auffassung der ersten Jahrhunderte von der Stellung des Menschen, seinem freien Willen und seiner Selbständigkeit, von der Auferstehungslehre u. s. f. über- giengen in die finstern Ansichten von Erbsünde und Unfreiheit, von der Auferstehung des Fleisches u. s. w. Kaum braucht hier daran erinnert zu werden, welche Macht der Kirche aus der Lehre von den Gnaden- mitteln zuwuchs, wie sich solche im nothwendigen Anschluß an die er- wähnte Umstimmung der Ansichten entwickelte. Selbstverständlich hieng auch die Anschauung des Thierreichs wesentlich von der übrigen gei- stigen Richtung der Zeit ab. Freilich finden sich bei frühen christlichen Schriftstellern Schilderungen genug, welche eine weiche, zuweilen bei- nahe sentimentale Stimmung der Natur im Allgemeinen gegenüber bekunden4). Von einem concreten Erfassen einzelner Erscheinungen, einer bestimmten wissenschaftlichen Stellung oder einer höheren philoso- phischen Auffassung der Natur ist aber kaum die Rede. Und wäre auch bei Einzelnen etwa eine Regung erwacht, sich einer solchen wenigstens zu nähern: die Masse des Volkes, selbst die unterrichtete, war einer solchen fremd.
Erklärlich wird dies aus einem Blick auf die litterarischen Hülfs- mittel des Unterrichts und den wesentlichen Inhalt derselben. Wenn von wirklichem Wissen gesprochen werden sollte, konnte man des Cultur- schatzes der Alten nicht entrathen; und doch mußte derselbe in die neue Form gezwängt werden. Von größter Bedeutung für die geistige Rich- tung des Mittelalters ist hier zunächst Boethius gewesen, welcher an die classische Vergangenheit direct anknüpfend, nicht bloß eine Reihe sich lange in hohem Ansehen erhaltender Schriften verfaßte, sondern durch den Versuch, die orthodoxen Glaubenssätze mit Hülfe aristote- lischer Formeln zu begründen und durch dialektische Erklärungen die Ansichten früherer Philosophen untereinander und mit dem Kirchen- glauben zu versöhnen, den Grund legte, auf dem sich später die Scho- lastik erhob. Seine Uebersetzungen einzelner Schriften des Aristoteles, welche lange Zeit die einzige Quelle für das Studium aristotelischer
Zeugniß, wie allmählich die freiere und natürlichere Auffaſſung der erſten Jahrhunderte von der Stellung des Menſchen, ſeinem freien Willen und ſeiner Selbſtändigkeit, von der Auferſtehungslehre u. ſ. f. über- giengen in die finſtern Anſichten von Erbſünde und Unfreiheit, von der Auferſtehung des Fleiſches u. ſ. w. Kaum braucht hier daran erinnert zu werden, welche Macht der Kirche aus der Lehre von den Gnaden- mitteln zuwuchs, wie ſich ſolche im nothwendigen Anſchluß an die er- wähnte Umſtimmung der Anſichten entwickelte. Selbſtverſtändlich hieng auch die Anſchauung des Thierreichs weſentlich von der übrigen gei- ſtigen Richtung der Zeit ab. Freilich finden ſich bei frühen chriſtlichen Schriftſtellern Schilderungen genug, welche eine weiche, zuweilen bei- nahe ſentimentale Stimmung der Natur im Allgemeinen gegenüber bekunden4). Von einem concreten Erfaſſen einzelner Erſcheinungen, einer beſtimmten wiſſenſchaftlichen Stellung oder einer höheren philoſo- phiſchen Auffaſſung der Natur iſt aber kaum die Rede. Und wäre auch bei Einzelnen etwa eine Regung erwacht, ſich einer ſolchen wenigſtens zu nähern: die Maſſe des Volkes, ſelbſt die unterrichtete, war einer ſolchen fremd.
Erklärlich wird dies aus einem Blick auf die litterariſchen Hülfs- mittel des Unterrichts und den weſentlichen Inhalt derſelben. Wenn von wirklichem Wiſſen geſprochen werden ſollte, konnte man des Cultur- ſchatzes der Alten nicht entrathen; und doch mußte derſelbe in die neue Form gezwängt werden. Von größter Bedeutung für die geiſtige Rich- tung des Mittelalters iſt hier zunächſt Boëthius geweſen, welcher an die claſſiſche Vergangenheit direct anknüpfend, nicht bloß eine Reihe ſich lange in hohem Anſehen erhaltender Schriften verfaßte, ſondern durch den Verſuch, die orthodoxen Glaubensſätze mit Hülfe ariſtote- liſcher Formeln zu begründen und durch dialektiſche Erklärungen die Anſichten früherer Philoſophen untereinander und mit dem Kirchen- glauben zu verſöhnen, den Grund legte, auf dem ſich ſpäter die Scho- laſtik erhob. Seine Ueberſetzungen einzelner Schriften des Ariſtoteles, welche lange Zeit die einzige Quelle für das Studium ariſtoteliſcher
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[104/0115]
Die Zoologie des Mittelalters.
Zeugniß, wie allmählich die freiere und natürlichere Auffaſſung der erſten
Jahrhunderte von der Stellung des Menſchen, ſeinem freien Willen
und ſeiner Selbſtändigkeit, von der Auferſtehungslehre u. ſ. f. über-
giengen in die finſtern Anſichten von Erbſünde und Unfreiheit, von der
Auferſtehung des Fleiſches u. ſ. w. Kaum braucht hier daran erinnert
zu werden, welche Macht der Kirche aus der Lehre von den Gnaden-
mitteln zuwuchs, wie ſich ſolche im nothwendigen Anſchluß an die er-
wähnte Umſtimmung der Anſichten entwickelte. Selbſtverſtändlich hieng
auch die Anſchauung des Thierreichs weſentlich von der übrigen gei-
ſtigen Richtung der Zeit ab. Freilich finden ſich bei frühen chriſtlichen
Schriftſtellern Schilderungen genug, welche eine weiche, zuweilen bei-
nahe ſentimentale Stimmung der Natur im Allgemeinen gegenüber
bekunden 4). Von einem concreten Erfaſſen einzelner Erſcheinungen,
einer beſtimmten wiſſenſchaftlichen Stellung oder einer höheren philoſo-
phiſchen Auffaſſung der Natur iſt aber kaum die Rede. Und wäre auch
bei Einzelnen etwa eine Regung erwacht, ſich einer ſolchen wenigſtens
zu nähern: die Maſſe des Volkes, ſelbſt die unterrichtete, war einer
ſolchen fremd.
Erklärlich wird dies aus einem Blick auf die litterariſchen Hülfs-
mittel des Unterrichts und den weſentlichen Inhalt derſelben. Wenn
von wirklichem Wiſſen geſprochen werden ſollte, konnte man des Cultur-
ſchatzes der Alten nicht entrathen; und doch mußte derſelbe in die neue
Form gezwängt werden. Von größter Bedeutung für die geiſtige Rich-
tung des Mittelalters iſt hier zunächſt Boëthius geweſen, welcher
an die claſſiſche Vergangenheit direct anknüpfend, nicht bloß eine Reihe
ſich lange in hohem Anſehen erhaltender Schriften verfaßte, ſondern
durch den Verſuch, die orthodoxen Glaubensſätze mit Hülfe ariſtote-
liſcher Formeln zu begründen und durch dialektiſche Erklärungen die
Anſichten früherer Philoſophen untereinander und mit dem Kirchen-
glauben zu verſöhnen, den Grund legte, auf dem ſich ſpäter die Scho-
laſtik erhob. Seine Ueberſetzungen einzelner Schriften des Ariſtoteles,
welche lange Zeit die einzige Quelle für das Studium ariſtoteliſcher
4) A. von Humboldt, Kosmos. 2. Bd. S. 26-31.
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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/115>, abgerufen am 16.02.2025.
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