Probleme) zuletzt eben so den Prozeß der Innervation des Hirns stören und krank werden lassen, wie etwa das lange Ausgestreckthalten der Arme indischer Heiligen die Muskeln und Sehnen der Arme verkümmern läßt; und ein ander¬ mal kann das sich ganz Hingeben an ein gewisses Wollen und Thun ebenfalls zum Wahnsinn leiten, jedoch immer nur dadurch, daß es ein solches Thun ist, welches auch das Unbewußte krank werden läßt, indem es ihm nicht den Schutz und die Wachsamkeit gewährt, welche, wie wir oben sagten, das Bewußte dem Unbewußten schuldig ist. So z. B. begründen also frühe Ausschweifungen des Geschlechts vielfältig Idiotismus, und so sind die Irrenhäuser erfüllt mit Wahnsinnigen, welche traurige Opfer der Trunksucht darstellen. In beiden Fällen ist immer genau nachzuweisen, wie hiebei, durch gewisse bewußte Handlungen, das Unbe¬ wußte im Allgemeinen, und besonders in gewissen Systemen, erkrankte, und wie denn von hier aus das Hirnleben sich erschüttert finden mußte.
Fassen wir nun ferner die Dauer dieser Krankheits¬ erscheinungen am Geiste ins Auge, so ist im Allgemeinen auszusagen, daß sie, zum größten Theile, über längere Zeiträume des Lebens sich ausdehnen. Es gibt zwar auch kurzes, recht eigentlich acutes Irrsein, nämlich das, was mit heftigen Fiebern bei Hirnentzündungen, was im Opium¬ rausch u. s. w. vorkommt; da aber hier das Kranksein immer vorherrschend im Unbewußten seinen Cyclus durch¬ läuft, so pflegt man gemeinhin, aber sehr unrechter Weise, diese Fälle zu den sogenannten Geisteskrankheiten gar nicht zu rechnen, obwohl durch eine solche Sonderung der Wissen¬ schaft nie ein wahrer Vortheil erwachsen konnte, da doch alle Krankheit eigentlich jedesmal das Leben ganz in Anspruch nimmt, nur einmal die eine, ein andermal die andere Seite mehr, und da doch immer nur erst nach dieser Erkenntniß die Geschichte der einzelnen Krankheiten voll¬ ständig begriffen werden wird. Wir hätten also, hinsicht¬
Probleme) zuletzt eben ſo den Prozeß der Innervation des Hirns ſtören und krank werden laſſen, wie etwa das lange Ausgeſtreckthalten der Arme indiſcher Heiligen die Muskeln und Sehnen der Arme verkümmern läßt; und ein ander¬ mal kann das ſich ganz Hingeben an ein gewiſſes Wollen und Thun ebenfalls zum Wahnſinn leiten, jedoch immer nur dadurch, daß es ein ſolches Thun iſt, welches auch das Unbewußte krank werden läßt, indem es ihm nicht den Schutz und die Wachſamkeit gewährt, welche, wie wir oben ſagten, das Bewußte dem Unbewußten ſchuldig iſt. So z. B. begründen alſo frühe Ausſchweifungen des Geſchlechts vielfältig Idiotismus, und ſo ſind die Irrenhäuſer erfüllt mit Wahnſinnigen, welche traurige Opfer der Trunkſucht darſtellen. In beiden Fällen iſt immer genau nachzuweiſen, wie hiebei, durch gewiſſe bewußte Handlungen, das Unbe¬ wußte im Allgemeinen, und beſonders in gewiſſen Syſtemen, erkrankte, und wie denn von hier aus das Hirnleben ſich erſchüttert finden mußte.
Faſſen wir nun ferner die Dauer dieſer Krankheits¬ erſcheinungen am Geiſte ins Auge, ſo iſt im Allgemeinen auszuſagen, daß ſie, zum größten Theile, über längere Zeiträume des Lebens ſich ausdehnen. Es gibt zwar auch kurzes, recht eigentlich acutes Irrſein, nämlich das, was mit heftigen Fiebern bei Hirnentzündungen, was im Opium¬ rauſch u. ſ. w. vorkommt; da aber hier das Krankſein immer vorherrſchend im Unbewußten ſeinen Cyclus durch¬ läuft, ſo pflegt man gemeinhin, aber ſehr unrechter Weiſe, dieſe Fälle zu den ſogenannten Geiſteskrankheiten gar nicht zu rechnen, obwohl durch eine ſolche Sonderung der Wiſſen¬ ſchaft nie ein wahrer Vortheil erwachſen konnte, da doch alle Krankheit eigentlich jedesmal das Leben ganz in Anſpruch nimmt, nur einmal die eine, ein andermal die andere Seite mehr, und da doch immer nur erſt nach dieſer Erkenntniß die Geſchichte der einzelnen Krankheiten voll¬ ſtändig begriffen werden wird. Wir hätten alſo, hinſicht¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0471"n="455"/>
Probleme) zuletzt eben ſo den Prozeß der Innervation des<lb/>
Hirns ſtören und krank werden laſſen, wie etwa das lange<lb/>
Ausgeſtreckthalten der Arme indiſcher Heiligen die Muskeln<lb/>
und Sehnen der Arme verkümmern läßt; und ein ander¬<lb/>
mal kann das ſich ganz Hingeben an ein gewiſſes Wollen<lb/>
und Thun ebenfalls zum Wahnſinn leiten, jedoch immer<lb/>
nur dadurch, daß es ein ſolches Thun iſt, welches auch das<lb/>
Unbewußte krank werden läßt, indem es ihm nicht den<lb/>
Schutz und die Wachſamkeit gewährt, welche, wie wir oben<lb/>ſagten, das Bewußte dem Unbewußten ſchuldig iſt. So<lb/>
z. B. begründen alſo frühe Ausſchweifungen des Geſchlechts<lb/>
vielfältig Idiotismus, und ſo ſind die Irrenhäuſer erfüllt<lb/>
mit Wahnſinnigen, welche traurige Opfer der Trunkſucht<lb/>
darſtellen. In beiden Fällen iſt immer genau nachzuweiſen,<lb/>
wie hiebei, durch gewiſſe bewußte Handlungen, das Unbe¬<lb/>
wußte im Allgemeinen, und beſonders in gewiſſen Syſtemen,<lb/>
erkrankte, und wie denn von hier aus das Hirnleben ſich<lb/>
erſchüttert finden mußte.</p><lb/><p>Faſſen wir nun ferner <hirendition="#g">die Dauer</hi> dieſer Krankheits¬<lb/>
erſcheinungen am Geiſte ins Auge, ſo iſt im Allgemeinen<lb/>
auszuſagen, daß ſie, zum größten Theile, über <hirendition="#g">längere</hi><lb/>
Zeiträume des Lebens ſich ausdehnen. Es gibt zwar auch<lb/>
kurzes, recht eigentlich acutes Irrſein, nämlich das, was<lb/>
mit heftigen Fiebern bei Hirnentzündungen, was im Opium¬<lb/>
rauſch u. ſ. w. vorkommt; da aber hier das Krankſein<lb/>
immer vorherrſchend im Unbewußten ſeinen Cyclus durch¬<lb/>
läuft, ſo pflegt man gemeinhin, aber ſehr unrechter Weiſe,<lb/>
dieſe Fälle zu den ſogenannten Geiſteskrankheiten gar nicht<lb/>
zu rechnen, obwohl durch eine ſolche Sonderung der Wiſſen¬<lb/>ſchaft nie ein wahrer Vortheil erwachſen konnte, da doch<lb/>
alle Krankheit eigentlich jedesmal das Leben <hirendition="#g">ganz</hi> in<lb/>
Anſpruch nimmt, nur einmal die eine, ein andermal die<lb/>
andere Seite mehr, und da doch immer nur erſt nach dieſer<lb/>
Erkenntniß die Geſchichte der einzelnen Krankheiten voll¬<lb/>ſtändig begriffen werden wird. Wir hätten alſo, hinſicht¬<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[455/0471]
Probleme) zuletzt eben ſo den Prozeß der Innervation des
Hirns ſtören und krank werden laſſen, wie etwa das lange
Ausgeſtreckthalten der Arme indiſcher Heiligen die Muskeln
und Sehnen der Arme verkümmern läßt; und ein ander¬
mal kann das ſich ganz Hingeben an ein gewiſſes Wollen
und Thun ebenfalls zum Wahnſinn leiten, jedoch immer
nur dadurch, daß es ein ſolches Thun iſt, welches auch das
Unbewußte krank werden läßt, indem es ihm nicht den
Schutz und die Wachſamkeit gewährt, welche, wie wir oben
ſagten, das Bewußte dem Unbewußten ſchuldig iſt. So
z. B. begründen alſo frühe Ausſchweifungen des Geſchlechts
vielfältig Idiotismus, und ſo ſind die Irrenhäuſer erfüllt
mit Wahnſinnigen, welche traurige Opfer der Trunkſucht
darſtellen. In beiden Fällen iſt immer genau nachzuweiſen,
wie hiebei, durch gewiſſe bewußte Handlungen, das Unbe¬
wußte im Allgemeinen, und beſonders in gewiſſen Syſtemen,
erkrankte, und wie denn von hier aus das Hirnleben ſich
erſchüttert finden mußte.
Faſſen wir nun ferner die Dauer dieſer Krankheits¬
erſcheinungen am Geiſte ins Auge, ſo iſt im Allgemeinen
auszuſagen, daß ſie, zum größten Theile, über längere
Zeiträume des Lebens ſich ausdehnen. Es gibt zwar auch
kurzes, recht eigentlich acutes Irrſein, nämlich das, was
mit heftigen Fiebern bei Hirnentzündungen, was im Opium¬
rauſch u. ſ. w. vorkommt; da aber hier das Krankſein
immer vorherrſchend im Unbewußten ſeinen Cyclus durch¬
läuft, ſo pflegt man gemeinhin, aber ſehr unrechter Weiſe,
dieſe Fälle zu den ſogenannten Geiſteskrankheiten gar nicht
zu rechnen, obwohl durch eine ſolche Sonderung der Wiſſen¬
ſchaft nie ein wahrer Vortheil erwachſen konnte, da doch
alle Krankheit eigentlich jedesmal das Leben ganz in
Anſpruch nimmt, nur einmal die eine, ein andermal die
andere Seite mehr, und da doch immer nur erſt nach dieſer
Erkenntniß die Geſchichte der einzelnen Krankheiten voll¬
ſtändig begriffen werden wird. Wir hätten alſo, hinſicht¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/471>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.