ganz unerklärlich. Je mehr man sich nun in alles Dieses hineindenkt, je bestimmter man erkennt, daß mit einer außerordentlichen Festigkeit das Nachgefühl des Vor¬ herdagewesenen und das Vorgefühl des Kommen¬ den sich hier unbewußt ausspricht, desto mehr muß man die Ueberzeugung gewinnen, daß Alles, was wir im be¬ wußten Leben Gedächtniß, Erinnerung nennen, und noch weit mehr Alles, was wir in dieser Region Voraussehen, Vorauswissen nennen, doch gar weit zurückbleibe hinter der Festigkeit und Sicherheit, mit welcher in der Region des unbewußten Lebens dieses epimetheische und prome- theische Princip, dieses Erinnerungs- und Vorahnungs¬ vermögen, noch ohne alles Bewußtsein einer Gegenwart, sich geltend macht. Wenn in niederen Thieren die verloren¬ gegangene Gliedmaße sich auf das vollkommenste, gleich¬ sam nach dem in unbewußter Erinnerung fest gebliebenen Bilde der verlorenen, wieder erzeugt, wenn in dem zuerst bloß mikroskopischen menschlichen Ei während seiner allmäh¬ ligen Entwicklung zum reifen Menschen das Bild der menschlichen Organisation überhaupt, ja der mütterlichen oder väterlichen Organisation insbesondere dergestalt durch Reihen von Jahren unvergessen bleibt, daß immer mehr und mehr und in ganz allmähliger Folge das Bild jenes ersten Stammes zuletzt wirklich deutlichst wieder hervortritt, wenn das ein Jahrtausend trocken aufbewahrte Samenkorn die Gestalt der Pflanze, von welcher es stammt, mit der Deut¬ lichkeit festhält, daß es dieselbe, so wie Feuchtigkeit, Nahrung und Wärme ihm geboten werden, mit allen Einzelnheiten des mikroskopischen Zellenbaues wieder darzustellen vermag, so ist ein mächtiges Epimetheisches hier gar nicht zu verkennen. Wenn andern Theils, während der Embryo noch von der Atmosphäre, in welche er später eintreten soll, nicht die mindeste Ahnung haben zu können scheint, in ihm doch schon mit größter Vollständigkeit das wunderbare Gewebe des Lungengebildes vorbereitet wird, in welches
ganz unerklärlich. Je mehr man ſich nun in alles Dieſes hineindenkt, je beſtimmter man erkennt, daß mit einer außerordentlichen Feſtigkeit das Nachgefühl des Vor¬ herdageweſenen und das Vorgefühl des Kommen¬ den ſich hier unbewußt ausſpricht, deſto mehr muß man die Ueberzeugung gewinnen, daß Alles, was wir im be¬ wußten Leben Gedächtniß, Erinnerung nennen, und noch weit mehr Alles, was wir in dieſer Region Vorausſehen, Vorauswiſſen nennen, doch gar weit zurückbleibe hinter der Feſtigkeit und Sicherheit, mit welcher in der Region des unbewußten Lebens dieſes epimetheiſche und prome- theiſche Princip, dieſes Erinnerungs- und Vorahnungs¬ vermögen, noch ohne alles Bewußtſein einer Gegenwart, ſich geltend macht. Wenn in niederen Thieren die verloren¬ gegangene Gliedmaße ſich auf das vollkommenſte, gleich¬ ſam nach dem in unbewußter Erinnerung feſt gebliebenen Bilde der verlorenen, wieder erzeugt, wenn in dem zuerſt bloß mikroſkopiſchen menſchlichen Ei während ſeiner allmäh¬ ligen Entwicklung zum reifen Menſchen das Bild der menſchlichen Organiſation überhaupt, ja der mütterlichen oder väterlichen Organiſation insbeſondere dergeſtalt durch Reihen von Jahren unvergeſſen bleibt, daß immer mehr und mehr und in ganz allmähliger Folge das Bild jenes erſten Stammes zuletzt wirklich deutlichſt wieder hervortritt, wenn das ein Jahrtauſend trocken aufbewahrte Samenkorn die Geſtalt der Pflanze, von welcher es ſtammt, mit der Deut¬ lichkeit feſthält, daß es dieſelbe, ſo wie Feuchtigkeit, Nahrung und Wärme ihm geboten werden, mit allen Einzelnheiten des mikroſkopiſchen Zellenbaues wieder darzuſtellen vermag, ſo iſt ein mächtiges Epimetheiſches hier gar nicht zu verkennen. Wenn andern Theils, während der Embryo noch von der Atmoſphäre, in welche er ſpäter eintreten ſoll, nicht die mindeſte Ahnung haben zu können ſcheint, in ihm doch ſchon mit größter Vollſtändigkeit das wunderbare Gewebe des Lungengebildes vorbereitet wird, in welches
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ganz unerklärlich. Je mehr man ſich nun in alles Dieſes
hineindenkt, je beſtimmter man erkennt, daß mit einer
außerordentlichen Feſtigkeit das Nachgefühl des Vor¬
herdageweſenen und das Vorgefühl des Kommen¬
den ſich hier unbewußt ausſpricht, deſto mehr muß man
die Ueberzeugung gewinnen, daß Alles, was wir im be¬
wußten Leben Gedächtniß, Erinnerung nennen, und noch
weit mehr Alles, was wir in dieſer Region Vorausſehen,
Vorauswiſſen nennen, doch gar weit zurückbleibe hinter
der Feſtigkeit und Sicherheit, mit welcher in der Region
des unbewußten Lebens dieſes epimetheiſche und prome-
theiſche Princip, dieſes Erinnerungs- und Vorahnungs¬
vermögen, noch ohne alles Bewußtſein einer Gegenwart,
ſich geltend macht. Wenn in niederen Thieren die verloren¬
gegangene Gliedmaße ſich auf das vollkommenſte, gleich¬
ſam nach dem in unbewußter Erinnerung feſt gebliebenen
Bilde der verlorenen, wieder erzeugt, wenn in dem zuerſt
bloß mikroſkopiſchen menſchlichen Ei während ſeiner allmäh¬
ligen Entwicklung zum reifen Menſchen das Bild der
menſchlichen Organiſation überhaupt, ja der mütterlichen
oder väterlichen Organiſation insbeſondere dergeſtalt durch
Reihen von Jahren unvergeſſen bleibt, daß immer mehr und
mehr und in ganz allmähliger Folge das Bild jenes erſten
Stammes zuletzt wirklich deutlichſt wieder hervortritt, wenn
das ein Jahrtauſend trocken aufbewahrte Samenkorn die
Geſtalt der Pflanze, von welcher es ſtammt, mit der Deut¬
lichkeit feſthält, daß es dieſelbe, ſo wie Feuchtigkeit, Nahrung
und Wärme ihm geboten werden, mit allen Einzelnheiten
des mikroſkopiſchen Zellenbaues wieder darzuſtellen vermag,
ſo iſt ein mächtiges Epimetheiſches hier gar nicht zu
verkennen. Wenn andern Theils, während der Embryo
noch von der Atmoſphäre, in welche er ſpäter eintreten ſoll,
nicht die mindeſte Ahnung haben zu können ſcheint, in ihm
doch ſchon mit größter Vollſtändigkeit das wunderbare
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/44>, abgerufen am 23.11.2024.
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