Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Was in ersterer Beziehung die Scheinbilder des
Göttlichen
betrifft, so sind alle und jede Versuche der
Menschheit, jenes höchste, unermeßliche und absolute My¬
sterium zusammen zu ziehen in den concreten Begriff eines
irgend Personificirten, immer nur eben so viele Beispiele
von Verirrung des menschlichen Geistes geblieben, und der
Streit und die Zwietracht, welche dann entstanden, wenn
die einzelnen Völker und Menschen sich eine Gottheit schu¬
fen nach ihrem Bilde, und jede Partei die seinige für
die allein rechte und ächte erklärte, haben ihre Spuren mit
blutigen Zügen auf jedes Blatt der Geschichte tausendfältig
gezeichnet. Wie gröblich die Scheinbilder für jenes höchste
Mysterium oft gewählt werden, beweisen die Fetische der
Wilden und die ungeheuerlichen Vorstellungen und Götzen¬
bilder so vieler Zeiten und Völker, welche immer nur die
getreuen Spiegelbilder sind von dem eigenen Zustande eines
solchen Stücks Menschheit. Mag aber auch ein Versuch
dieser Art scharfsinniger sein als der andere, einer auch
poetisch tiefer gefaßt und schöner als der andere, ein Bild
Raphaels von der Gottheit edler und mächtiger als ein
chinesisches Götzenbild, und die Deduction eines monothei¬
stischen Theologen von den Attributen der Person der Gott¬
heit verständiger als die Anrufung eines Priesters des
Dalai Lama; allein streng genommen und in der ernstesten
und unbedingtesten Wahrheit, wiegen doch das eine eben
so leicht als das andere, und es ist das eine eben so weit
abweichend von jenem, oben als das eigenste Verhältniß
der Seele zu Gott bezeichnetem Untergehen oder vielmehr
Aufgehen des Bewußtseins in einem höchsten für uns
absoluten Unbewußten, als das andere.

Es hat übrigens etwas sehr Merkwürdiges und oft
Rührendes, alle die verschiedenen Phasen zu verfolgen,
durch welche die Menschheit in dieser Beziehung durchgehen
mußte; -- insbesondere gewinnt der Naturcultus, die Ver¬
ehrung gewisser mächtiger Naturerscheinungen erst von die¬

Was in erſterer Beziehung die Scheinbilder des
Göttlichen
betrifft, ſo ſind alle und jede Verſuche der
Menſchheit, jenes höchſte, unermeßliche und abſolute My¬
ſterium zuſammen zu ziehen in den concreten Begriff eines
irgend Perſonificirten, immer nur eben ſo viele Beiſpiele
von Verirrung des menſchlichen Geiſtes geblieben, und der
Streit und die Zwietracht, welche dann entſtanden, wenn
die einzelnen Völker und Menſchen ſich eine Gottheit ſchu¬
fen nach ihrem Bilde, und jede Partei die ſeinige für
die allein rechte und ächte erklärte, haben ihre Spuren mit
blutigen Zügen auf jedes Blatt der Geſchichte tauſendfältig
gezeichnet. Wie gröblich die Scheinbilder für jenes höchſte
Myſterium oft gewählt werden, beweiſen die Fetiſche der
Wilden und die ungeheuerlichen Vorſtellungen und Götzen¬
bilder ſo vieler Zeiten und Völker, welche immer nur die
getreuen Spiegelbilder ſind von dem eigenen Zuſtande eines
ſolchen Stücks Menſchheit. Mag aber auch ein Verſuch
dieſer Art ſcharfſinniger ſein als der andere, einer auch
poetiſch tiefer gefaßt und ſchöner als der andere, ein Bild
Raphaels von der Gottheit edler und mächtiger als ein
chineſiſches Götzenbild, und die Deduction eines monothei¬
ſtiſchen Theologen von den Attributen der Perſon der Gott¬
heit verſtändiger als die Anrufung eines Prieſters des
Dalai Lama; allein ſtreng genommen und in der ernſteſten
und unbedingteſten Wahrheit, wiegen doch das eine eben
ſo leicht als das andere, und es iſt das eine eben ſo weit
abweichend von jenem, oben als das eigenſte Verhältniß
der Seele zu Gott bezeichnetem Untergehen oder vielmehr
Aufgehen des Bewußtſeins in einem höchſten für uns
abſoluten Unbewußten, als das andere.

Es hat übrigens etwas ſehr Merkwürdiges und oft
Rührendes, alle die verſchiedenen Phaſen zu verfolgen,
durch welche die Menſchheit in dieſer Beziehung durchgehen
mußte; — insbeſondere gewinnt der Naturcultus, die Ver¬
ehrung gewiſſer mächtiger Naturerſcheinungen erſt von die¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0419" n="403"/>
          <p>Was in er&#x017F;terer Beziehung <hi rendition="#g">die Scheinbilder des<lb/>
Göttlichen</hi> betrifft, &#x017F;o &#x017F;ind alle und jede Ver&#x017F;uche der<lb/>
Men&#x017F;chheit, jenes höch&#x017F;te, unermeßliche und ab&#x017F;olute My¬<lb/>
&#x017F;terium zu&#x017F;ammen zu ziehen in den concreten Begriff eines<lb/>
irgend Per&#x017F;onificirten, immer nur eben &#x017F;o viele Bei&#x017F;piele<lb/>
von Verirrung des men&#x017F;chlichen Gei&#x017F;tes geblieben, und der<lb/>
Streit und die Zwietracht, welche dann ent&#x017F;tanden, wenn<lb/>
die einzelnen Völker und Men&#x017F;chen &#x017F;ich eine Gottheit &#x017F;chu¬<lb/>
fen nach <hi rendition="#g">ihrem</hi> Bilde, und jede Partei die &#x017F;einige für<lb/>
die allein rechte und ächte erklärte, haben ihre Spuren mit<lb/>
blutigen Zügen auf jedes Blatt der Ge&#x017F;chichte tau&#x017F;endfältig<lb/>
gezeichnet. Wie gröblich die Scheinbilder für jenes höch&#x017F;te<lb/>
My&#x017F;terium oft gewählt werden, bewei&#x017F;en die Feti&#x017F;che der<lb/>
Wilden und die ungeheuerlichen Vor&#x017F;tellungen und Götzen¬<lb/>
bilder &#x017F;o vieler Zeiten und Völker, welche immer nur die<lb/>
getreuen Spiegelbilder &#x017F;ind von dem eigenen Zu&#x017F;tande eines<lb/>
&#x017F;olchen Stücks Men&#x017F;chheit. Mag aber auch <hi rendition="#g">ein</hi> Ver&#x017F;uch<lb/>
die&#x017F;er Art &#x017F;charf&#x017F;inniger &#x017F;ein als der andere, <hi rendition="#g">einer</hi> auch<lb/>
poeti&#x017F;ch tiefer gefaßt und &#x017F;chöner als der andere, ein Bild<lb/>
Raphaels von der Gottheit edler und mächtiger als ein<lb/>
chine&#x017F;i&#x017F;ches Götzenbild, und die Deduction eines monothei¬<lb/>
&#x017F;ti&#x017F;chen Theologen von den Attributen der Per&#x017F;on der Gott¬<lb/>
heit ver&#x017F;tändiger als die Anrufung eines Prie&#x017F;ters des<lb/>
Dalai Lama; allein &#x017F;treng genommen und in der ern&#x017F;te&#x017F;ten<lb/>
und unbedingte&#x017F;ten Wahrheit, wiegen doch das eine eben<lb/>
&#x017F;o leicht als das andere, und es i&#x017F;t das eine eben &#x017F;o weit<lb/>
abweichend von jenem, oben als das eigen&#x017F;te Verhältniß<lb/>
der Seele zu Gott bezeichnetem Untergehen oder vielmehr<lb/><hi rendition="#g">Aufgehen</hi> des Bewußt&#x017F;eins in einem höch&#x017F;ten <hi rendition="#g">für uns</hi><lb/>
ab&#x017F;oluten <hi rendition="#g">Unbewußten</hi>, als das andere.</p><lb/>
          <p>Es hat übrigens etwas &#x017F;ehr Merkwürdiges und oft<lb/>
Rührendes, alle die ver&#x017F;chiedenen Pha&#x017F;en zu verfolgen,<lb/>
durch welche die Men&#x017F;chheit in die&#x017F;er Beziehung durchgehen<lb/>
mußte; &#x2014; insbe&#x017F;ondere gewinnt der Naturcultus, die Ver¬<lb/>
ehrung gewi&#x017F;&#x017F;er mächtiger Naturer&#x017F;cheinungen er&#x017F;t von die¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[403/0419] Was in erſterer Beziehung die Scheinbilder des Göttlichen betrifft, ſo ſind alle und jede Verſuche der Menſchheit, jenes höchſte, unermeßliche und abſolute My¬ ſterium zuſammen zu ziehen in den concreten Begriff eines irgend Perſonificirten, immer nur eben ſo viele Beiſpiele von Verirrung des menſchlichen Geiſtes geblieben, und der Streit und die Zwietracht, welche dann entſtanden, wenn die einzelnen Völker und Menſchen ſich eine Gottheit ſchu¬ fen nach ihrem Bilde, und jede Partei die ſeinige für die allein rechte und ächte erklärte, haben ihre Spuren mit blutigen Zügen auf jedes Blatt der Geſchichte tauſendfältig gezeichnet. Wie gröblich die Scheinbilder für jenes höchſte Myſterium oft gewählt werden, beweiſen die Fetiſche der Wilden und die ungeheuerlichen Vorſtellungen und Götzen¬ bilder ſo vieler Zeiten und Völker, welche immer nur die getreuen Spiegelbilder ſind von dem eigenen Zuſtande eines ſolchen Stücks Menſchheit. Mag aber auch ein Verſuch dieſer Art ſcharfſinniger ſein als der andere, einer auch poetiſch tiefer gefaßt und ſchöner als der andere, ein Bild Raphaels von der Gottheit edler und mächtiger als ein chineſiſches Götzenbild, und die Deduction eines monothei¬ ſtiſchen Theologen von den Attributen der Perſon der Gott¬ heit verſtändiger als die Anrufung eines Prieſters des Dalai Lama; allein ſtreng genommen und in der ernſteſten und unbedingteſten Wahrheit, wiegen doch das eine eben ſo leicht als das andere, und es iſt das eine eben ſo weit abweichend von jenem, oben als das eigenſte Verhältniß der Seele zu Gott bezeichnetem Untergehen oder vielmehr Aufgehen des Bewußtſeins in einem höchſten für uns abſoluten Unbewußten, als das andere. Es hat übrigens etwas ſehr Merkwürdiges und oft Rührendes, alle die verſchiedenen Phaſen zu verfolgen, durch welche die Menſchheit in dieſer Beziehung durchgehen mußte; — insbeſondere gewinnt der Naturcultus, die Ver¬ ehrung gewiſſer mächtiger Naturerſcheinungen erſt von die¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/419
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/419>, abgerufen am 25.11.2024.