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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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bedingten Nöthigung seine Freiheit aufgebenden Willen, er¬
innert uns durchaus an die schon viel früher mitgetheilte
Bemerkung, welche darauf sich bezog, daß alles Können
nur dadurch zur Kunst werde, daß es aufhöre ein durchaus
bewußtes Können zu sein; eine Bemerkung, die wir durch
das Beispiel des Klavierspielers erläuterten, welcher erst
dann die Kunst des Spiels wirklich und vollständig besitzt,
wenn die einzelnen, anfangs jede gesondert, mit Bewußt¬
sein gewollten und vollführten Fingersetzungen und Bewe¬
gungen durchaus wieder unbewußt geworden sind, und eben
nur gewissermaßen unwillkürlich dann erscheinen, wenn die
Idee der Musik in der Seele lebendig aufgeht.

In diesen Erscheinungen des Seelenlebens zeigt sich
übrigens, wenn wir es genauer bedenken, nur das Ver¬
hältniß wieder an, welches auch in andern Beziehungen in
der Natur sich vielfältig wiederholt, nämlich das Verhältniß
eines Theil-Organismus zu einem höhern Gesammt-Orga¬
nismus. -- Wie etwa an der lebendigen Seefeder die ein¬
zelne Thierblüthe gewisse Regungen, Erfühlungen, Bewe¬
gungen für sich hat, andere aber nur von dem Leben des
ganzen Polypenstocks regiert werden, so hat auch in so viel
höherm Lebenkreise der bewußte Geist des Menschen nur
zum Theil sein Erkennen, Fühlen und Wollen für sich, zum
andern Theil aber theilt er diese Regungen mit dem Leben¬
kreise der Menschheit, ja dem der Welt und allem in ihr
sich offenbarenden Göttlichen. Es tritt hier das merkwür¬
dige Verhältniß ein, daß der bewußte Geist des Menschen
überhaupt eines Theils nur zur Entwicklung, zur Selbst¬
ständigkeit und somit auch zum freien Willen kommt durch
Vereinleben mit der Menschheit, und daß doch auch andern
Theils gerade in diesem Vereinleben das Moment gegeben
ist, wodurch seine Selbstständigkeit gewissermaßen wieder
aufgehoben wird, und in Bezug auf den Willen ein höheres
Müssen mit in die scheinbare Willkür hereingreift, und
zwar um so mehr hereingreift und sich geltend macht, je

bedingten Nöthigung ſeine Freiheit aufgebenden Willen, er¬
innert uns durchaus an die ſchon viel früher mitgetheilte
Bemerkung, welche darauf ſich bezog, daß alles Können
nur dadurch zur Kunſt werde, daß es aufhöre ein durchaus
bewußtes Können zu ſein; eine Bemerkung, die wir durch
das Beiſpiel des Klavierſpielers erläuterten, welcher erſt
dann die Kunſt des Spiels wirklich und vollſtändig beſitzt,
wenn die einzelnen, anfangs jede geſondert, mit Bewußt¬
ſein gewollten und vollführten Fingerſetzungen und Bewe¬
gungen durchaus wieder unbewußt geworden ſind, und eben
nur gewiſſermaßen unwillkürlich dann erſcheinen, wenn die
Idee der Muſik in der Seele lebendig aufgeht.

In dieſen Erſcheinungen des Seelenlebens zeigt ſich
übrigens, wenn wir es genauer bedenken, nur das Ver¬
hältniß wieder an, welches auch in andern Beziehungen in
der Natur ſich vielfältig wiederholt, nämlich das Verhältniß
eines Theil-Organismus zu einem höhern Geſammt-Orga¬
nismus. — Wie etwa an der lebendigen Seefeder die ein¬
zelne Thierblüthe gewiſſe Regungen, Erfühlungen, Bewe¬
gungen für ſich hat, andere aber nur von dem Leben des
ganzen Polypenſtocks regiert werden, ſo hat auch in ſo viel
höherm Lebenkreiſe der bewußte Geiſt des Menſchen nur
zum Theil ſein Erkennen, Fühlen und Wollen für ſich, zum
andern Theil aber theilt er dieſe Regungen mit dem Leben¬
kreiſe der Menſchheit, ja dem der Welt und allem in ihr
ſich offenbarenden Göttlichen. Es tritt hier das merkwür¬
dige Verhältniß ein, daß der bewußte Geiſt des Menſchen
überhaupt eines Theils nur zur Entwicklung, zur Selbſt¬
ſtändigkeit und ſomit auch zum freien Willen kommt durch
Vereinleben mit der Menſchheit, und daß doch auch andern
Theils gerade in dieſem Vereinleben das Moment gegeben
iſt, wodurch ſeine Selbſtſtändigkeit gewiſſermaßen wieder
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[362/0378] bedingten Nöthigung ſeine Freiheit aufgebenden Willen, er¬ innert uns durchaus an die ſchon viel früher mitgetheilte Bemerkung, welche darauf ſich bezog, daß alles Können nur dadurch zur Kunſt werde, daß es aufhöre ein durchaus bewußtes Können zu ſein; eine Bemerkung, die wir durch das Beiſpiel des Klavierſpielers erläuterten, welcher erſt dann die Kunſt des Spiels wirklich und vollſtändig beſitzt, wenn die einzelnen, anfangs jede geſondert, mit Bewußt¬ ſein gewollten und vollführten Fingerſetzungen und Bewe¬ gungen durchaus wieder unbewußt geworden ſind, und eben nur gewiſſermaßen unwillkürlich dann erſcheinen, wenn die Idee der Muſik in der Seele lebendig aufgeht. In dieſen Erſcheinungen des Seelenlebens zeigt ſich übrigens, wenn wir es genauer bedenken, nur das Ver¬ hältniß wieder an, welches auch in andern Beziehungen in der Natur ſich vielfältig wiederholt, nämlich das Verhältniß eines Theil-Organismus zu einem höhern Geſammt-Orga¬ nismus. — Wie etwa an der lebendigen Seefeder die ein¬ zelne Thierblüthe gewiſſe Regungen, Erfühlungen, Bewe¬ gungen für ſich hat, andere aber nur von dem Leben des ganzen Polypenſtocks regiert werden, ſo hat auch in ſo viel höherm Lebenkreiſe der bewußte Geiſt des Menſchen nur zum Theil ſein Erkennen, Fühlen und Wollen für ſich, zum andern Theil aber theilt er dieſe Regungen mit dem Leben¬ kreiſe der Menſchheit, ja dem der Welt und allem in ihr ſich offenbarenden Göttlichen. Es tritt hier das merkwür¬ dige Verhältniß ein, daß der bewußte Geiſt des Menſchen überhaupt eines Theils nur zur Entwicklung, zur Selbſt¬ ſtändigkeit und ſomit auch zum freien Willen kommt durch Vereinleben mit der Menſchheit, und daß doch auch andern Theils gerade in dieſem Vereinleben das Moment gegeben iſt, wodurch ſeine Selbſtſtändigkeit gewiſſermaßen wieder aufgehoben wird, und in Bezug auf den Willen ein höheres Müſſen mit in die ſcheinbare Willkür hereingreift, und zwar um ſo mehr hereingreift und ſich geltend macht, je

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/378>, abgerufen am 22.11.2024.