zur vollständigen Verrücktheit (ein sehr bezeichnendes Wort für den verrückten geistigen Schwerpunkt des bewußten Le¬ bens) bei sich verbildendem oder entzündetem Hirn, möchte sich aus jenen Andeutungen wohl das Verständniß erörtern lassen. Freilich ist es hiebei nothwendig, an das sich zu¬ rück zu erinnern, was ich hier und an andern Orten über die verschiedene psychische Signatur der einzelnen organischen (unbewußten) Systeme angemerkt habe, denn nur dadurch wird man sich deutlich machen, wie bei dieser oder jener Lebensstörung der geistige Schwerpunkt, eben jener in der Erkenntniß ruhende höhere Mittelpunkt des Seelenlebens, aus seiner rechten Stelle verdrängt, und bald nach dieser oder jener Richtung, wo nun die Erkenntniß aufhört wahr¬ hafte Erkenntniß zu sein, gleichsam verrückt werden kann. Wie gesagt indeß, das Ausmitteln dieser nicht mehr in rechter und reiner Mitte sich haltenden Erkenntniß und ihres Verhältnisses zur ächten und höchsten, an fremden Seelen wie in der eigenen, ist immer eine der schwierigsten Auf¬ gaben höherer Lebenkunst, und selten werden Aufgaben dieser Art ohne die vielfältigsten Widersprüche und Streitigkeiten gelöst. Die Beachtung dieser Widersprüche und unlös¬ baren Streitigkeiten im Reiche der Erkenntniß, worauf es beruht, daß die erwähnte Frage: "was ist Wahrheit?" nie ganz vollständig entschieden werden wird, ist aber eben darum so wichtig, weil sie auf das Wesen der Erkenntniß selbst ein besonderes helles Licht zu werfen im Stande ist. Würden wir nämlich durch die Erkenntniß die Idee un¬ mittelbar (d. h. ohne sie in jene Aequivalente der Worte übersetzen zu müssen) gewahr, so wäre ganz gewiß eine solche Schwankung unmöglich, aber eben darum, weil das Erkennen der Gedanken nur ein Combiniren verschiedener solcher Aequivalente, weil es eine Art von Buchstabenrech¬ nung ist, in welcher das Verhältniß der Ideen ausge¬ funden werden kann, während im Gefühl der Zustand der Idee allein unmittelbar angeschaut wird, bewegt sich
zur vollſtändigen Verrücktheit (ein ſehr bezeichnendes Wort für den verrückten geiſtigen Schwerpunkt des bewußten Le¬ bens) bei ſich verbildendem oder entzündetem Hirn, möchte ſich aus jenen Andeutungen wohl das Verſtändniß erörtern laſſen. Freilich iſt es hiebei nothwendig, an das ſich zu¬ rück zu erinnern, was ich hier und an andern Orten über die verſchiedene pſychiſche Signatur der einzelnen organiſchen (unbewußten) Syſteme angemerkt habe, denn nur dadurch wird man ſich deutlich machen, wie bei dieſer oder jener Lebensſtörung der geiſtige Schwerpunkt, eben jener in der Erkenntniß ruhende höhere Mittelpunkt des Seelenlebens, aus ſeiner rechten Stelle verdrängt, und bald nach dieſer oder jener Richtung, wo nun die Erkenntniß aufhört wahr¬ hafte Erkenntniß zu ſein, gleichſam verrückt werden kann. Wie geſagt indeß, das Ausmitteln dieſer nicht mehr in rechter und reiner Mitte ſich haltenden Erkenntniß und ihres Verhältniſſes zur ächten und höchſten, an fremden Seelen wie in der eigenen, iſt immer eine der ſchwierigſten Auf¬ gaben höherer Lebenkunſt, und ſelten werden Aufgaben dieſer Art ohne die vielfältigſten Widerſprüche und Streitigkeiten gelöst. Die Beachtung dieſer Widerſprüche und unlös¬ baren Streitigkeiten im Reiche der Erkenntniß, worauf es beruht, daß die erwähnte Frage: „was iſt Wahrheit?“ nie ganz vollſtändig entſchieden werden wird, iſt aber eben darum ſo wichtig, weil ſie auf das Weſen der Erkenntniß ſelbſt ein beſonderes helles Licht zu werfen im Stande iſt. Würden wir nämlich durch die Erkenntniß die Idee un¬ mittelbar (d. h. ohne ſie in jene Aequivalente der Worte überſetzen zu müſſen) gewahr, ſo wäre ganz gewiß eine ſolche Schwankung unmöglich, aber eben darum, weil das Erkennen der Gedanken nur ein Combiniren verſchiedener ſolcher Aequivalente, weil es eine Art von Buchſtabenrech¬ nung iſt, in welcher das Verhältniß der Ideen ausge¬ funden werden kann, während im Gefühl der Zuſtand der Idee allein unmittelbar angeſchaut wird, bewegt ſich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0365"n="349"/>
zur vollſtändigen Verrücktheit (ein ſehr bezeichnendes Wort<lb/>
für den verrückten geiſtigen Schwerpunkt des bewußten Le¬<lb/>
bens) bei ſich verbildendem oder entzündetem Hirn, möchte<lb/>ſich aus jenen Andeutungen wohl das Verſtändniß erörtern<lb/>
laſſen. Freilich iſt es hiebei nothwendig, an <hirendition="#g">das</hi>ſich zu¬<lb/>
rück zu erinnern, was ich hier und an andern Orten über<lb/>
die verſchiedene pſychiſche Signatur der einzelnen organiſchen<lb/>
(unbewußten) Syſteme angemerkt habe, denn nur dadurch<lb/>
wird man ſich deutlich machen, wie bei dieſer oder jener<lb/>
Lebensſtörung der geiſtige Schwerpunkt, eben jener in der<lb/>
Erkenntniß ruhende höhere Mittelpunkt des Seelenlebens,<lb/>
aus ſeiner rechten Stelle verdrängt, und bald nach dieſer<lb/>
oder jener Richtung, wo nun die Erkenntniß aufhört wahr¬<lb/>
hafte Erkenntniß zu ſein, gleichſam verrückt werden kann.<lb/>
Wie geſagt indeß, das Ausmitteln dieſer nicht mehr in<lb/>
rechter und reiner Mitte ſich haltenden Erkenntniß und ihres<lb/>
Verhältniſſes zur ächten und höchſten, an fremden Seelen<lb/>
wie in der eigenen, iſt immer eine der ſchwierigſten Auf¬<lb/>
gaben höherer Lebenkunſt, und ſelten werden Aufgaben dieſer<lb/>
Art ohne die vielfältigſten Widerſprüche und Streitigkeiten<lb/>
gelöst. Die Beachtung dieſer Widerſprüche und unlös¬<lb/>
baren Streitigkeiten im Reiche der Erkenntniß, worauf es<lb/>
beruht, daß die erwähnte Frage: „was iſt Wahrheit?“ nie<lb/>
ganz vollſtändig entſchieden werden wird, iſt aber eben<lb/>
darum ſo wichtig, weil ſie auf das Weſen der Erkenntniß<lb/>ſelbſt ein beſonderes helles Licht zu werfen im Stande iſt.<lb/>
Würden wir nämlich durch die Erkenntniß die Idee <hirendition="#g">un¬<lb/>
mittelbar</hi> (d. h. ohne ſie in jene Aequivalente der Worte<lb/>
überſetzen zu müſſen) gewahr, ſo wäre ganz gewiß eine<lb/>ſolche Schwankung unmöglich, aber eben darum, weil das<lb/>
Erkennen der Gedanken nur ein Combiniren verſchiedener<lb/>ſolcher Aequivalente, weil es eine Art von Buchſtabenrech¬<lb/>
nung iſt, in welcher das <hirendition="#g">Verhältniß</hi> der Ideen ausge¬<lb/>
funden werden kann, während im Gefühl der <hirendition="#g">Zuſtand</hi><lb/>
der Idee allein unmittelbar angeſchaut wird, bewegt ſich<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[349/0365]
zur vollſtändigen Verrücktheit (ein ſehr bezeichnendes Wort
für den verrückten geiſtigen Schwerpunkt des bewußten Le¬
bens) bei ſich verbildendem oder entzündetem Hirn, möchte
ſich aus jenen Andeutungen wohl das Verſtändniß erörtern
laſſen. Freilich iſt es hiebei nothwendig, an das ſich zu¬
rück zu erinnern, was ich hier und an andern Orten über
die verſchiedene pſychiſche Signatur der einzelnen organiſchen
(unbewußten) Syſteme angemerkt habe, denn nur dadurch
wird man ſich deutlich machen, wie bei dieſer oder jener
Lebensſtörung der geiſtige Schwerpunkt, eben jener in der
Erkenntniß ruhende höhere Mittelpunkt des Seelenlebens,
aus ſeiner rechten Stelle verdrängt, und bald nach dieſer
oder jener Richtung, wo nun die Erkenntniß aufhört wahr¬
hafte Erkenntniß zu ſein, gleichſam verrückt werden kann.
Wie geſagt indeß, das Ausmitteln dieſer nicht mehr in
rechter und reiner Mitte ſich haltenden Erkenntniß und ihres
Verhältniſſes zur ächten und höchſten, an fremden Seelen
wie in der eigenen, iſt immer eine der ſchwierigſten Auf¬
gaben höherer Lebenkunſt, und ſelten werden Aufgaben dieſer
Art ohne die vielfältigſten Widerſprüche und Streitigkeiten
gelöst. Die Beachtung dieſer Widerſprüche und unlös¬
baren Streitigkeiten im Reiche der Erkenntniß, worauf es
beruht, daß die erwähnte Frage: „was iſt Wahrheit?“ nie
ganz vollſtändig entſchieden werden wird, iſt aber eben
darum ſo wichtig, weil ſie auf das Weſen der Erkenntniß
ſelbſt ein beſonderes helles Licht zu werfen im Stande iſt.
Würden wir nämlich durch die Erkenntniß die Idee un¬
mittelbar (d. h. ohne ſie in jene Aequivalente der Worte
überſetzen zu müſſen) gewahr, ſo wäre ganz gewiß eine
ſolche Schwankung unmöglich, aber eben darum, weil das
Erkennen der Gedanken nur ein Combiniren verſchiedener
ſolcher Aequivalente, weil es eine Art von Buchſtabenrech¬
nung iſt, in welcher das Verhältniß der Ideen ausge¬
funden werden kann, während im Gefühl der Zuſtand
der Idee allein unmittelbar angeſchaut wird, bewegt ſich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/365>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.