Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

pflegt, und was überall, weil es auf der scharfen und
schnellen Beurtheilung vorliegender Verhältnisse beruht, allein
die rechte Willenskraft bethätigt, ist ohne reifere Erkennt¬
niß durchaus nicht möglich. Andererseits ist es auch wie¬
der unmöglich, daß die Erkenntniß wahrhaft reife, ohne
daß der Geist durch Wirkung nach außen sich bewähre.
Streng genommen kann ja das ganze Leben nur in so
fern seinen Werth für das Wachsthum der Idee bekommen,
indem es das Mittel ist, daß die Idee sich bethätige; wäre
es möglich, daß eine Idee reifen könnte ohne Bethätigung,
so wäre das ganze Dasein überflüssig.

So weit denn diese Verhältnisse! -- Was man krank¬
hafte Abschweifungen
der Erkenntniß nennen könnte,
ist eigentlich in dem schon inbegriffen was bei Betrachtung
der niedern Erkenntniß als Bornirtheit und Irrthum, und
in ihren äußersten Graden als Blödsinn und Verrücktheit
erwähnt worden ist. Besonderer Bemerkung bedarf es in¬
deß, wie mächtig in dieser Beziehung die Einwirkung des
unbewußten im bewußten Leben sich darstellt. Vielfältig
ist schon gezeigt worden, wie die höchste Blüthe bewußten
Geistes immer nur anzusehen sei als der ideelle Mittel-
und Höhenpunkt alles dessen was zuvor, und was gleich¬
zeitig im Reiche des Unbewußtseins der Idee vorgeht, und
wie sonach fortwährend auch die reinste Selbst-Offenbarung
bewußten Geistes in der Erkenntniß bedingt werde durch
eine reine Stimmung der im Dasein des Organismus
waltenden unbewußten Idee. Wie demnach der Schwer¬
punkt eines Körpers sich verändert und verrückt, wenn
eine Seite desselben auf einmal mehr als die andere be¬
lastet wird, so kann auch der reine Strahl der Erkenntniß,
welcher in seinem eigenen innern Genügen und seiner
innern Freudigkeit das Siegel seiner Wahrhaftigkeit trägt,
nicht mehr als solcher gedacht werden, wenn bedeutendere
Störungen das Gleichgewicht unbewußten organischen Lebens
aufgehoben haben. Wie also das Auge bei der Gelbsucht

pflegt, und was überall, weil es auf der ſcharfen und
ſchnellen Beurtheilung vorliegender Verhältniſſe beruht, allein
die rechte Willenskraft bethätigt, iſt ohne reifere Erkennt¬
niß durchaus nicht möglich. Andererſeits iſt es auch wie¬
der unmöglich, daß die Erkenntniß wahrhaft reife, ohne
daß der Geiſt durch Wirkung nach außen ſich bewähre.
Streng genommen kann ja das ganze Leben nur in ſo
fern ſeinen Werth für das Wachsthum der Idee bekommen,
indem es das Mittel iſt, daß die Idee ſich bethätige; wäre
es möglich, daß eine Idee reifen könnte ohne Bethätigung,
ſo wäre das ganze Daſein überflüſſig.

So weit denn dieſe Verhältniſſe! — Was man krank¬
hafte Abſchweifungen
der Erkenntniß nennen könnte,
iſt eigentlich in dem ſchon inbegriffen was bei Betrachtung
der niedern Erkenntniß als Bornirtheit und Irrthum, und
in ihren äußerſten Graden als Blödſinn und Verrücktheit
erwähnt worden iſt. Beſonderer Bemerkung bedarf es in¬
deß, wie mächtig in dieſer Beziehung die Einwirkung des
unbewußten im bewußten Leben ſich darſtellt. Vielfältig
iſt ſchon gezeigt worden, wie die höchſte Blüthe bewußten
Geiſtes immer nur anzuſehen ſei als der ideelle Mittel-
und Höhenpunkt alles deſſen was zuvor, und was gleich¬
zeitig im Reiche des Unbewußtſeins der Idee vorgeht, und
wie ſonach fortwährend auch die reinſte Selbſt-Offenbarung
bewußten Geiſtes in der Erkenntniß bedingt werde durch
eine reine Stimmung der im Daſein des Organismus
waltenden unbewußten Idee. Wie demnach der Schwer¬
punkt eines Körpers ſich verändert und verrückt, wenn
eine Seite deſſelben auf einmal mehr als die andere be¬
laſtet wird, ſo kann auch der reine Strahl der Erkenntniß,
welcher in ſeinem eigenen innern Genügen und ſeiner
innern Freudigkeit das Siegel ſeiner Wahrhaftigkeit trägt,
nicht mehr als ſolcher gedacht werden, wenn bedeutendere
Störungen das Gleichgewicht unbewußten organiſchen Lebens
aufgehoben haben. Wie alſo das Auge bei der Gelbſucht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0363" n="347"/>
pflegt, und was überall, weil es auf der &#x017F;charfen und<lb/>
&#x017F;chnellen Beurtheilung vorliegender Verhältni&#x017F;&#x017F;e beruht, allein<lb/>
die rechte Willenskraft bethätigt, i&#x017F;t ohne reifere Erkennt¬<lb/>
niß durchaus nicht möglich. Anderer&#x017F;eits i&#x017F;t es auch wie¬<lb/>
der unmöglich, daß die Erkenntniß wahrhaft reife, ohne<lb/>
daß der Gei&#x017F;t durch Wirkung nach außen &#x017F;ich bewähre.<lb/>
Streng genommen kann ja das ganze Leben nur in &#x017F;o<lb/>
fern &#x017F;einen Werth für das Wachsthum der Idee bekommen,<lb/>
indem es das Mittel i&#x017F;t, daß die Idee &#x017F;ich bethätige; wäre<lb/>
es möglich, daß eine Idee reifen könnte ohne Bethätigung,<lb/>
&#x017F;o wäre das ganze Da&#x017F;ein überflü&#x017F;&#x017F;ig.</p><lb/>
            <p>So weit denn die&#x017F;e Verhältni&#x017F;&#x017F;e! &#x2014; Was man <hi rendition="#g">krank¬<lb/>
hafte Ab&#x017F;chweifungen</hi> der Erkenntniß nennen könnte,<lb/>
i&#x017F;t eigentlich in <hi rendition="#g">dem</hi> &#x017F;chon inbegriffen was bei Betrachtung<lb/>
der niedern Erkenntniß als Bornirtheit und Irrthum, und<lb/>
in ihren äußer&#x017F;ten Graden als Blöd&#x017F;inn und Verrücktheit<lb/>
erwähnt worden i&#x017F;t. Be&#x017F;onderer Bemerkung bedarf es in¬<lb/>
deß, wie mächtig in die&#x017F;er Beziehung die Einwirkung des<lb/>
unbewußten im bewußten Leben &#x017F;ich dar&#x017F;tellt. Vielfältig<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;chon gezeigt worden, wie die höch&#x017F;te Blüthe bewußten<lb/>
Gei&#x017F;tes immer nur anzu&#x017F;ehen &#x017F;ei als der ideelle Mittel-<lb/>
und Höhenpunkt alles de&#x017F;&#x017F;en was zuvor, und was gleich¬<lb/>
zeitig im Reiche des Unbewußt&#x017F;eins der Idee vorgeht, und<lb/>
wie &#x017F;onach fortwährend auch die rein&#x017F;te Selb&#x017F;t-Offenbarung<lb/>
bewußten Gei&#x017F;tes in der Erkenntniß bedingt werde durch<lb/>
eine reine Stimmung der im Da&#x017F;ein des Organismus<lb/>
waltenden unbewußten Idee. Wie demnach der Schwer¬<lb/>
punkt eines Körpers &#x017F;ich verändert und verrückt, wenn<lb/>
eine Seite de&#x017F;&#x017F;elben auf einmal mehr als die andere be¬<lb/>
la&#x017F;tet wird, &#x017F;o kann auch der reine Strahl der Erkenntniß,<lb/>
welcher in &#x017F;einem eigenen innern Genügen und &#x017F;einer<lb/>
innern Freudigkeit das Siegel &#x017F;einer Wahrhaftigkeit trägt,<lb/>
nicht mehr als &#x017F;olcher gedacht werden, wenn bedeutendere<lb/>
Störungen das Gleichgewicht unbewußten organi&#x017F;chen Lebens<lb/>
aufgehoben haben. Wie al&#x017F;o das Auge bei der Gelb&#x017F;ucht<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[347/0363] pflegt, und was überall, weil es auf der ſcharfen und ſchnellen Beurtheilung vorliegender Verhältniſſe beruht, allein die rechte Willenskraft bethätigt, iſt ohne reifere Erkennt¬ niß durchaus nicht möglich. Andererſeits iſt es auch wie¬ der unmöglich, daß die Erkenntniß wahrhaft reife, ohne daß der Geiſt durch Wirkung nach außen ſich bewähre. Streng genommen kann ja das ganze Leben nur in ſo fern ſeinen Werth für das Wachsthum der Idee bekommen, indem es das Mittel iſt, daß die Idee ſich bethätige; wäre es möglich, daß eine Idee reifen könnte ohne Bethätigung, ſo wäre das ganze Daſein überflüſſig. So weit denn dieſe Verhältniſſe! — Was man krank¬ hafte Abſchweifungen der Erkenntniß nennen könnte, iſt eigentlich in dem ſchon inbegriffen was bei Betrachtung der niedern Erkenntniß als Bornirtheit und Irrthum, und in ihren äußerſten Graden als Blödſinn und Verrücktheit erwähnt worden iſt. Beſonderer Bemerkung bedarf es in¬ deß, wie mächtig in dieſer Beziehung die Einwirkung des unbewußten im bewußten Leben ſich darſtellt. Vielfältig iſt ſchon gezeigt worden, wie die höchſte Blüthe bewußten Geiſtes immer nur anzuſehen ſei als der ideelle Mittel- und Höhenpunkt alles deſſen was zuvor, und was gleich¬ zeitig im Reiche des Unbewußtſeins der Idee vorgeht, und wie ſonach fortwährend auch die reinſte Selbſt-Offenbarung bewußten Geiſtes in der Erkenntniß bedingt werde durch eine reine Stimmung der im Daſein des Organismus waltenden unbewußten Idee. Wie demnach der Schwer¬ punkt eines Körpers ſich verändert und verrückt, wenn eine Seite deſſelben auf einmal mehr als die andere be¬ laſtet wird, ſo kann auch der reine Strahl der Erkenntniß, welcher in ſeinem eigenen innern Genügen und ſeiner innern Freudigkeit das Siegel ſeiner Wahrhaftigkeit trägt, nicht mehr als ſolcher gedacht werden, wenn bedeutendere Störungen das Gleichgewicht unbewußten organiſchen Lebens aufgehoben haben. Wie alſo das Auge bei der Gelbſucht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/363
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/363>, abgerufen am 23.11.2024.