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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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der Sprache jedem Stamme der Menschheit freigelassen
blieb sich überall sein eigenes Idiom zu bilden. Wer so¬
nach diese so sehr verschiedene Bedeutung von Sprache und
Musik richtig erkannt hat, dem wird nicht schwer werden
darin das Verhältniß der Erkenntniß und des Gefühls voll¬
kommen wiederzuerkennen, und er wird einerseits allerdings
finden, daß das Denken in Worten, zwar, wie es
den Geist überhaupt zuerst setzt, auch allein das erneuerte
geistige Construiren der Welt möglich macht, daß es jedoch
nichts desto weniger derjenigen Unmittelbarkeit ermangelt,
deren das Gefühl und dessen Aequivalent, die Musik, in
so hohem Grade fähig ist.

Ist es doch eben so wenig zu verkennen, daß auch wie¬
der die Sinnesvorstellung an und für sich, und die Repro¬
duction derselben in der Phantasie, in Bezug auf Unmit¬
telbarkeit und Gegenständlichkeit, einen ungeheuren Vorzug
vor dem Denken habe, und daß kein Gedanke als solcher
die Kraft und Lebendigkeit einer unmittelbaren Sinnesvor¬
stellung erhalten kann; allein nichts desto weniger wird doch
immer, eben weil zuletzt alles Leben nur durch stäte Mani¬
festation der Idee in der Erscheinung bedingt ist, der Ge¬
danke als das Tertium comparationis, oder das Aequi¬
valent beider, ein Etwas, wodurch im höhern Sinne auch
allein der Wiederaufbau der gesammten Welt im Geiste zu
ermöglichen ist und wodurch dann selbst die Unmittelbarkeit
des Gefühls sowohl als der Sinnesvorstellung erst vollen
Werth und Bedeutung erhalten kann. -- Das Denken ist
sonach eine stäte Ausgleichung, eine immer sich wiederholende
Synthese, ein stätes wechselseitiges Messen der Idee an
der Erscheinung und der Erscheinung an der Idee. 1

1 Man könnte die Frage aufwerfen, durch welches organische Moment
dieses stäte Messen der Vorstellung an der Idee und der Idee an der
Vorstellung repräsentirt werde? -- Es ergibt sich aber, daß, nachdem wir
in der Molekularsubstanz des Hirns das organische Moment der Vorstellung,
und in den primitiven Fasern der Nerven die stäte Beziehung der Seele
zur Außenwelt erkannt haben, für die Beziehung der Vorstellungen unter

der Sprache jedem Stamme der Menſchheit freigelaſſen
blieb ſich überall ſein eigenes Idiom zu bilden. Wer ſo¬
nach dieſe ſo ſehr verſchiedene Bedeutung von Sprache und
Muſik richtig erkannt hat, dem wird nicht ſchwer werden
darin das Verhältniß der Erkenntniß und des Gefühls voll¬
kommen wiederzuerkennen, und er wird einerſeits allerdings
finden, daß das Denken in Worten, zwar, wie es
den Geiſt überhaupt zuerſt ſetzt, auch allein das erneuerte
geiſtige Conſtruiren der Welt möglich macht, daß es jedoch
nichts deſto weniger derjenigen Unmittelbarkeit ermangelt,
deren das Gefühl und deſſen Aequivalent, die Muſik, in
ſo hohem Grade fähig iſt.

Iſt es doch eben ſo wenig zu verkennen, daß auch wie¬
der die Sinnesvorſtellung an und für ſich, und die Repro¬
duction derſelben in der Phantaſie, in Bezug auf Unmit¬
telbarkeit und Gegenſtändlichkeit, einen ungeheuren Vorzug
vor dem Denken habe, und daß kein Gedanke als ſolcher
die Kraft und Lebendigkeit einer unmittelbaren Sinnesvor¬
ſtellung erhalten kann; allein nichts deſto weniger wird doch
immer, eben weil zuletzt alles Leben nur durch ſtäte Mani¬
feſtation der Idee in der Erſcheinung bedingt iſt, der Ge¬
danke als das Tertium comparationis, oder das Aequi¬
valent beider, ein Etwas, wodurch im höhern Sinne auch
allein der Wiederaufbau der geſammten Welt im Geiſte zu
ermöglichen iſt und wodurch dann ſelbſt die Unmittelbarkeit
des Gefühls ſowohl als der Sinnesvorſtellung erſt vollen
Werth und Bedeutung erhalten kann. — Das Denken iſt
ſonach eine ſtäte Ausgleichung, eine immer ſich wiederholende
Syntheſe, ein ſtätes wechſelſeitiges Meſſen der Idee an
der Erſcheinung und der Erſcheinung an der Idee. 1

1 Man könnte die Frage aufwerfen, durch welches organiſche Moment
dieſes ſtäte Meſſen der Vorſtellung an der Idee und der Idee an der
Vorſtellung repräſentirt werde? — Es ergibt ſich aber, daß, nachdem wir
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[336/0352] der Sprache jedem Stamme der Menſchheit freigelaſſen blieb ſich überall ſein eigenes Idiom zu bilden. Wer ſo¬ nach dieſe ſo ſehr verſchiedene Bedeutung von Sprache und Muſik richtig erkannt hat, dem wird nicht ſchwer werden darin das Verhältniß der Erkenntniß und des Gefühls voll¬ kommen wiederzuerkennen, und er wird einerſeits allerdings finden, daß das Denken in Worten, zwar, wie es den Geiſt überhaupt zuerſt ſetzt, auch allein das erneuerte geiſtige Conſtruiren der Welt möglich macht, daß es jedoch nichts deſto weniger derjenigen Unmittelbarkeit ermangelt, deren das Gefühl und deſſen Aequivalent, die Muſik, in ſo hohem Grade fähig iſt. Iſt es doch eben ſo wenig zu verkennen, daß auch wie¬ der die Sinnesvorſtellung an und für ſich, und die Repro¬ duction derſelben in der Phantaſie, in Bezug auf Unmit¬ telbarkeit und Gegenſtändlichkeit, einen ungeheuren Vorzug vor dem Denken habe, und daß kein Gedanke als ſolcher die Kraft und Lebendigkeit einer unmittelbaren Sinnesvor¬ ſtellung erhalten kann; allein nichts deſto weniger wird doch immer, eben weil zuletzt alles Leben nur durch ſtäte Mani¬ feſtation der Idee in der Erſcheinung bedingt iſt, der Ge¬ danke als das Tertium comparationis, oder das Aequi¬ valent beider, ein Etwas, wodurch im höhern Sinne auch allein der Wiederaufbau der geſammten Welt im Geiſte zu ermöglichen iſt und wodurch dann ſelbſt die Unmittelbarkeit des Gefühls ſowohl als der Sinnesvorſtellung erſt vollen Werth und Bedeutung erhalten kann. — Das Denken iſt ſonach eine ſtäte Ausgleichung, eine immer ſich wiederholende Syntheſe, ein ſtätes wechſelſeitiges Meſſen der Idee an der Erſcheinung und der Erſcheinung an der Idee. 1 1 Man könnte die Frage aufwerfen, durch welches organiſche Moment dieſes ſtäte Meſſen der Vorſtellung an der Idee und der Idee an der Vorſtellung repräſentirt werde? — Es ergibt ſich aber, daß, nachdem wir in der Molekularſubſtanz des Hirns das organiſche Moment der Vorſtellung, und in den primitiven Faſern der Nerven die ſtäte Beziehung der Seele zur Außenwelt erkannt haben, für die Beziehung der Vorſtellungen unter

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/352>, abgerufen am 22.11.2024.