Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

ständniß des Allgemeinen und alles Göttlichen. Man darf
sagen, eine solche Liebe sei die erste Erlösung aus dem
Einzel-Sein und der erste Schritt zur Wiederkehr in das
All, und aus dieser Entäußerung von aller Selbstheit gehe
am leichtesten hervor die unbedingte Hingebung an ein über
allem Bewußtsein schwebendes Göttliche, mit einem Worte
zu der Liebe zu Gott. Es ist daher nicht unwichtig
zu bemerken, wie unverkennbar eben deßhalb Seelen, welchen
zu Theil geworden ist das Liebesgefühl der Geschlechter in
allen seinen Phasen zu durchleben, gerade dadurch zugleich
oftmals besonders gereift werden, in spätern Lebensperioden,
theils, wenn die Flamme des geschlechtlichen Liebesgefühls
verglüht ist, der vollkommenen Geistesliebe fähig zu
werden, theils mit ganzer Innigkeit die Liebe zu Gott
zu empfinden und zu erfahren.

Diese Betrachtung ist es aber zugleich, die uns zur
Erkenntniß der wichtigsten Beziehung und Bedeutung der Liebe
überhaupt für den gesammten Menschen vorbereiten kann.
Sprechen wir es nämlich im Allgemeinen aus, so beruht
alle höhere Entwicklung, welche die Seele des
Menschen überhaupt erreichen kann, urwesentlich
auf der Liebe. Nicht ohne Grund sagt der Apostel: "und
wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete und hätte die
Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende
Schelle;" denn in ihrem tiefsten Wesen ist die Liebe eigent¬
lich schlechterdings nichts Anderes als ein mächtiger,
Bewußtes und Unbewußtes durchdringender und
bewegender Zug nach Vervollständigung unsers
Daseins nach höchster und seeligster Vollendung
unserer eigensten Existenz. Eben also, weil zunächst
anzuerkennen ist, daß die Geschlechter in ihrem Einzelleben
und für-sich-sein ein Unvollständiges sind, tritt die Liebe
der Geschlechter mit dieser, alle anderen irdischen Liebes¬
formen übertreffenden Gewalt und Nothwendigkeit hervor
und wird im naturgemäßen Gange der Entwicklung die

ſtändniß des Allgemeinen und alles Göttlichen. Man darf
ſagen, eine ſolche Liebe ſei die erſte Erlöſung aus dem
Einzel-Sein und der erſte Schritt zur Wiederkehr in das
All, und aus dieſer Entäußerung von aller Selbſtheit gehe
am leichteſten hervor die unbedingte Hingebung an ein über
allem Bewußtſein ſchwebendes Göttliche, mit einem Worte
zu der Liebe zu Gott. Es iſt daher nicht unwichtig
zu bemerken, wie unverkennbar eben deßhalb Seelen, welchen
zu Theil geworden iſt das Liebesgefühl der Geſchlechter in
allen ſeinen Phaſen zu durchleben, gerade dadurch zugleich
oftmals beſonders gereift werden, in ſpätern Lebensperioden,
theils, wenn die Flamme des geſchlechtlichen Liebesgefühls
verglüht iſt, der vollkommenen Geiſtesliebe fähig zu
werden, theils mit ganzer Innigkeit die Liebe zu Gott
zu empfinden und zu erfahren.

Dieſe Betrachtung iſt es aber zugleich, die uns zur
Erkenntniß der wichtigſten Beziehung und Bedeutung der Liebe
überhaupt für den geſammten Menſchen vorbereiten kann.
Sprechen wir es nämlich im Allgemeinen aus, ſo beruht
alle höhere Entwicklung, welche die Seele des
Menſchen überhaupt erreichen kann, urweſentlich
auf der Liebe. Nicht ohne Grund ſagt der Apoſtel: „und
wenn ich mit Menſchen- und Engelzungen redete und hätte die
Liebe nicht, ſo wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende
Schelle;“ denn in ihrem tiefſten Weſen iſt die Liebe eigent¬
lich ſchlechterdings nichts Anderes als ein mächtiger,
Bewußtes und Unbewußtes durchdringender und
bewegender Zug nach Vervollſtändigung unſers
Daſeins nach höchſter und ſeeligſter Vollendung
unſerer eigenſten Exiſtenz. Eben alſo, weil zunächſt
anzuerkennen iſt, daß die Geſchlechter in ihrem Einzelleben
und für-ſich-ſein ein Unvollſtändiges ſind, tritt die Liebe
der Geſchlechter mit dieſer, alle anderen irdiſchen Liebes¬
formen übertreffenden Gewalt und Nothwendigkeit hervor
und wird im naturgemäßen Gange der Entwicklung die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0313" n="297"/>
&#x017F;tändniß des Allgemeinen und alles Göttlichen. Man darf<lb/>
&#x017F;agen, eine &#x017F;olche Liebe &#x017F;ei die er&#x017F;te Erlö&#x017F;ung aus dem<lb/>
Einzel-Sein und der er&#x017F;te Schritt zur Wiederkehr in das<lb/>
All, und aus die&#x017F;er Entäußerung von aller Selb&#x017F;theit gehe<lb/>
am leichte&#x017F;ten hervor die unbedingte Hingebung an ein über<lb/>
allem Bewußt&#x017F;ein &#x017F;chwebendes Göttliche, mit einem Worte<lb/><hi rendition="#g">zu der Liebe zu Gott</hi>. Es i&#x017F;t daher nicht unwichtig<lb/>
zu bemerken, wie unverkennbar eben deßhalb Seelen, welchen<lb/>
zu Theil geworden i&#x017F;t das Liebesgefühl der Ge&#x017F;chlechter in<lb/>
allen &#x017F;einen Pha&#x017F;en zu durchleben, gerade <hi rendition="#g">dadurch</hi> zugleich<lb/>
oftmals be&#x017F;onders gereift werden, in &#x017F;pätern Lebensperioden,<lb/>
theils, wenn die Flamme des ge&#x017F;chlechtlichen Liebesgefühls<lb/>
verglüht i&#x017F;t, der vollkommenen <hi rendition="#g">Gei&#x017F;tesliebe</hi> fähig zu<lb/>
werden, theils mit ganzer Innigkeit <hi rendition="#g">die Liebe zu Gott</hi><lb/>
zu empfinden und zu erfahren.</p><lb/>
              <p>Die&#x017F;e Betrachtung i&#x017F;t es aber zugleich, die uns zur<lb/>
Erkenntniß der wichtig&#x017F;ten Beziehung und Bedeutung der Liebe<lb/>
überhaupt für den ge&#x017F;ammten Men&#x017F;chen vorbereiten kann.<lb/>
Sprechen wir es nämlich im Allgemeinen aus, <hi rendition="#g">&#x017F;o beruht<lb/>
alle höhere Entwicklung</hi>, <hi rendition="#g">welche</hi> die <hi rendition="#g">Seele des<lb/>
Men&#x017F;chen überhaupt erreichen kann</hi>, <hi rendition="#g">urwe&#x017F;entlich<lb/>
auf der Liebe</hi>. Nicht ohne Grund &#x017F;agt der Apo&#x017F;tel: &#x201E;und<lb/>
wenn ich mit Men&#x017F;chen- und Engelzungen redete und hätte die<lb/>
Liebe nicht, &#x017F;o wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende<lb/>
Schelle;&#x201C; denn in ihrem tief&#x017F;ten We&#x017F;en i&#x017F;t die Liebe eigent¬<lb/>
lich &#x017F;chlechterdings nichts Anderes <hi rendition="#g">als ein mächtiger</hi>,<lb/><hi rendition="#g">Bewußtes und Unbewußtes durchdringender und<lb/>
bewegender Zug nach Vervoll&#x017F;tändigung un&#x017F;ers<lb/>
Da&#x017F;eins nach höch&#x017F;ter und &#x017F;eelig&#x017F;ter Vollendung<lb/>
un&#x017F;erer eigen&#x017F;ten Exi&#x017F;tenz</hi>. Eben al&#x017F;o, weil zunäch&#x017F;t<lb/>
anzuerkennen i&#x017F;t, daß die Ge&#x017F;chlechter in ihrem Einzelleben<lb/>
und für-&#x017F;ich-&#x017F;ein ein Unvoll&#x017F;tändiges &#x017F;ind, tritt die Liebe<lb/>
der Ge&#x017F;chlechter mit die&#x017F;er, alle anderen irdi&#x017F;chen Liebes¬<lb/>
formen übertreffenden Gewalt und Nothwendigkeit hervor<lb/>
und wird im naturgemäßen Gange der Entwicklung die<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[297/0313] ſtändniß des Allgemeinen und alles Göttlichen. Man darf ſagen, eine ſolche Liebe ſei die erſte Erlöſung aus dem Einzel-Sein und der erſte Schritt zur Wiederkehr in das All, und aus dieſer Entäußerung von aller Selbſtheit gehe am leichteſten hervor die unbedingte Hingebung an ein über allem Bewußtſein ſchwebendes Göttliche, mit einem Worte zu der Liebe zu Gott. Es iſt daher nicht unwichtig zu bemerken, wie unverkennbar eben deßhalb Seelen, welchen zu Theil geworden iſt das Liebesgefühl der Geſchlechter in allen ſeinen Phaſen zu durchleben, gerade dadurch zugleich oftmals beſonders gereift werden, in ſpätern Lebensperioden, theils, wenn die Flamme des geſchlechtlichen Liebesgefühls verglüht iſt, der vollkommenen Geiſtesliebe fähig zu werden, theils mit ganzer Innigkeit die Liebe zu Gott zu empfinden und zu erfahren. Dieſe Betrachtung iſt es aber zugleich, die uns zur Erkenntniß der wichtigſten Beziehung und Bedeutung der Liebe überhaupt für den geſammten Menſchen vorbereiten kann. Sprechen wir es nämlich im Allgemeinen aus, ſo beruht alle höhere Entwicklung, welche die Seele des Menſchen überhaupt erreichen kann, urweſentlich auf der Liebe. Nicht ohne Grund ſagt der Apoſtel: „und wenn ich mit Menſchen- und Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, ſo wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle;“ denn in ihrem tiefſten Weſen iſt die Liebe eigent¬ lich ſchlechterdings nichts Anderes als ein mächtiger, Bewußtes und Unbewußtes durchdringender und bewegender Zug nach Vervollſtändigung unſers Daſeins nach höchſter und ſeeligſter Vollendung unſerer eigenſten Exiſtenz. Eben alſo, weil zunächſt anzuerkennen iſt, daß die Geſchlechter in ihrem Einzelleben und für-ſich-ſein ein Unvollſtändiges ſind, tritt die Liebe der Geſchlechter mit dieſer, alle anderen irdiſchen Liebes¬ formen übertreffenden Gewalt und Nothwendigkeit hervor und wird im naturgemäßen Gange der Entwicklung die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/313
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/313>, abgerufen am 18.05.2024.