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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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verständlich werden mag -- zuletzt bleibt doch ein Incom¬
mensurables nur durch ein anderes Incommensurables, d. i.
nur durch das Geheimniß der Liebe zu lösendes übrig.
Nicht anders wird es meistens dem Weibe gehen in dem
Verständniß des Mannes, -- und nur, indem man an¬
nehmen darf, daß bei dem ersten im Allgemeinen mehr das
durch das Unbewußte bestimmte Gemüth vorwaltet und das
eigentliche Erkennen nicht in gleichem Maße die Aufgabe
des ganzen Lebens wird wie im Manne, tritt vielleicht ein
gewisses mehr unmittelbares Vernehmen der Geheimnisse der
männlichen Seele -- ein gewisses magnetisches Ab-fühlen
hervor -- welches, auch noch ohne jenes höchste Incom¬
mensurable, in manchen Beziehungen das Seelenleben des
Mannes dem Weibe näher bringen wird als es im umge¬
kehrten Verhältnisse gewöhnlich der Fall ist.

Ist es doch aus eben diesem Grunde bisher Dichtern
immer vollkommner gelungen in Schilderung einzelner ganz
aus ihrer eignen Phantasie hervorgegangenen Charaktere,
den Gegensatz des Männlichen und Weiblichen in aus¬
nehmender Klarheit darzustellen, als es Psychologen und
Philosophen in wissenschaftlichen Deductionen vermocht ha¬
ben. Der Dichter nämlich verhält sich hier zum Wissen¬
schafter auch wie ein Weibliches zum Männlichen, und eben
weil es das Mysterium als solches, d. i. mehr unbewußt,
erfaßt, kommt er ihm oft näher als der letztere, wenn die¬
ser nämlich überall von dem Grundsatze ausgeht, Alles
und Jedes ins klare Bewußtsein ziehen zu wollen. Freilich
was uns betrifft, so sind wir der Meinung, daß diese letz¬
tere Ansicht überhaupt irrig sei, und daß gerade die höhere
Erkenntniß jedem sein Recht zu thun habe, das Bewußte
als solches mit größter Klarheit darstellen, das Unbewußte
in seinem Dunkeln und Geheimnißvollen anerkennen und
aufnehmen müsse, so wie eine bildliche Darstellung etwa
nicht bloß Licht im Lichte gelten lassen kann, sondern erst
durch Verbindung und kunstgemäße Zusammenstellung von

Carus, Psyche. 17

verſtändlich werden mag — zuletzt bleibt doch ein Incom¬
menſurables nur durch ein anderes Incommenſurables, d. i.
nur durch das Geheimniß der Liebe zu löſendes übrig.
Nicht anders wird es meiſtens dem Weibe gehen in dem
Verſtändniß des Mannes, — und nur, indem man an¬
nehmen darf, daß bei dem erſten im Allgemeinen mehr das
durch das Unbewußte beſtimmte Gemüth vorwaltet und das
eigentliche Erkennen nicht in gleichem Maße die Aufgabe
des ganzen Lebens wird wie im Manne, tritt vielleicht ein
gewiſſes mehr unmittelbares Vernehmen der Geheimniſſe der
männlichen Seele — ein gewiſſes magnetiſches Ab-fühlen
hervor — welches, auch noch ohne jenes höchſte Incom¬
menſurable, in manchen Beziehungen das Seelenleben des
Mannes dem Weibe näher bringen wird als es im umge¬
kehrten Verhältniſſe gewöhnlich der Fall iſt.

Iſt es doch aus eben dieſem Grunde bisher Dichtern
immer vollkommner gelungen in Schilderung einzelner ganz
aus ihrer eignen Phantaſie hervorgegangenen Charaktere,
den Gegenſatz des Männlichen und Weiblichen in aus¬
nehmender Klarheit darzuſtellen, als es Pſychologen und
Philoſophen in wiſſenſchaftlichen Deductionen vermocht ha¬
ben. Der Dichter nämlich verhält ſich hier zum Wiſſen¬
ſchafter auch wie ein Weibliches zum Männlichen, und eben
weil es das Myſterium als ſolches, d. i. mehr unbewußt,
erfaßt, kommt er ihm oft näher als der letztere, wenn die¬
ſer nämlich überall von dem Grundſatze ausgeht, Alles
und Jedes ins klare Bewußtſein ziehen zu wollen. Freilich
was uns betrifft, ſo ſind wir der Meinung, daß dieſe letz¬
tere Anſicht überhaupt irrig ſei, und daß gerade die höhere
Erkenntniß jedem ſein Recht zu thun habe, das Bewußte
als ſolches mit größter Klarheit darſtellen, das Unbewußte
in ſeinem Dunkeln und Geheimnißvollen anerkennen und
aufnehmen müſſe, ſo wie eine bildliche Darſtellung etwa
nicht bloß Licht im Lichte gelten laſſen kann, ſondern erſt
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Carus, Pſyche. 17
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[257/0273] verſtändlich werden mag — zuletzt bleibt doch ein Incom¬ menſurables nur durch ein anderes Incommenſurables, d. i. nur durch das Geheimniß der Liebe zu löſendes übrig. Nicht anders wird es meiſtens dem Weibe gehen in dem Verſtändniß des Mannes, — und nur, indem man an¬ nehmen darf, daß bei dem erſten im Allgemeinen mehr das durch das Unbewußte beſtimmte Gemüth vorwaltet und das eigentliche Erkennen nicht in gleichem Maße die Aufgabe des ganzen Lebens wird wie im Manne, tritt vielleicht ein gewiſſes mehr unmittelbares Vernehmen der Geheimniſſe der männlichen Seele — ein gewiſſes magnetiſches Ab-fühlen hervor — welches, auch noch ohne jenes höchſte Incom¬ menſurable, in manchen Beziehungen das Seelenleben des Mannes dem Weibe näher bringen wird als es im umge¬ kehrten Verhältniſſe gewöhnlich der Fall iſt. Iſt es doch aus eben dieſem Grunde bisher Dichtern immer vollkommner gelungen in Schilderung einzelner ganz aus ihrer eignen Phantaſie hervorgegangenen Charaktere, den Gegenſatz des Männlichen und Weiblichen in aus¬ nehmender Klarheit darzuſtellen, als es Pſychologen und Philoſophen in wiſſenſchaftlichen Deductionen vermocht ha¬ ben. Der Dichter nämlich verhält ſich hier zum Wiſſen¬ ſchafter auch wie ein Weibliches zum Männlichen, und eben weil es das Myſterium als ſolches, d. i. mehr unbewußt, erfaßt, kommt er ihm oft näher als der letztere, wenn die¬ ſer nämlich überall von dem Grundſatze ausgeht, Alles und Jedes ins klare Bewußtſein ziehen zu wollen. Freilich was uns betrifft, ſo ſind wir der Meinung, daß dieſe letz¬ tere Anſicht überhaupt irrig ſei, und daß gerade die höhere Erkenntniß jedem ſein Recht zu thun habe, das Bewußte als ſolches mit größter Klarheit darſtellen, das Unbewußte in ſeinem Dunkeln und Geheimnißvollen anerkennen und aufnehmen müſſe, ſo wie eine bildliche Darſtellung etwa nicht bloß Licht im Lichte gelten laſſen kann, ſondern erſt durch Verbindung und kunſtgemäße Zuſammenſtellung von Carus, Pſyche. 17

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/273>, abgerufen am 25.11.2024.