Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

denheit und Untreue vor. -- Verhältnisse zwischen welchen
dann natürlich eine vollständige Ausgleichung und Be¬
freundung nie möglich ist. Das Geheimniß des Gegen¬
satzes welchen Göthe in seinem Tasso und Antonio so
ergreifend dargestellt, beruht ganz auf dem Gewahrwerden
dieser ursprünglichen Verschiedenheit der Geister im Kreise
der Menschheit.

Eben so bietet sich eine große Verschiedenheit dar, je
nachdem die Bestimmtheit in der Unbestimmtheit des Geistes
früher oder später hervortritt. Man möchte wohl voraus¬
setzen, daß je zeitiger die Persönlichkeit, die bestimmte In¬
dividualität des Geistes sich hervorthue, desto früher müsse
ihr Wachsthum aufhören und jenes Festwerden, gleichsam
Erstarren des Geistes eintreten, allein es muß hiebei in
Betrachtung gezogen werden, daß auch wieder, je prägnan¬
ter überhaupt die Energie des Geistes ist, sie auch um so
früher in ihrer Eigenthümlichkeit sich andeuten wird, und
hieraus geht denn gewöhnlich gerade das umgekehrte Ver¬
hältniß hervor, eben weil die bedeutende Individualität das
Bedürfniß hat weiter hinaus als die unbedeutende ihr Wachs¬
thum auszudehnen. Aus diesem Grunde zeigt sich bei Na¬
turen, welche der Ausdruck einer energischen Idee sind,
größtentheils schon in ganz jungen Jahren etwas Abson¬
derliches, eine sehr bestimmte Anlage zu einer scharf aus¬
geprägten Persönlichkeit, und dessen ungeachtet wachsen sie
geistig mit Macht und Ausdauer bis in späte Lebensepochen
fort. Ob dabei die wirklich scharf ausgeprägte Persönlich¬
keit, das was wir Charakter nennen, zeitiger oder später
hervortritt, hängt gewöhnlich von der besondern Lebens¬
richtung, d. h. davon ab, ob mehr in den Regionen des
Erkennens, mehr in den des Gemüths, oder mehr in denen
des Willens und der That, die geistige Entwicklung fort¬
schreitet. Schon oben ist davon die Rede gewesen, wie
selbst auf das An-sich-sein der Idee, das Erkennen, das
Gefühl, die Willensregung, verschieden wirke; hier muß

denheit und Untreue vor. — Verhältniſſe zwiſchen welchen
dann natürlich eine vollſtändige Ausgleichung und Be¬
freundung nie möglich iſt. Das Geheimniß des Gegen¬
ſatzes welchen Göthe in ſeinem Taſſo und Antonio ſo
ergreifend dargeſtellt, beruht ganz auf dem Gewahrwerden
dieſer urſprünglichen Verſchiedenheit der Geiſter im Kreiſe
der Menſchheit.

Eben ſo bietet ſich eine große Verſchiedenheit dar, je
nachdem die Beſtimmtheit in der Unbeſtimmtheit des Geiſtes
früher oder ſpäter hervortritt. Man möchte wohl voraus¬
ſetzen, daß je zeitiger die Perſönlichkeit, die beſtimmte In¬
dividualität des Geiſtes ſich hervorthue, deſto früher müſſe
ihr Wachsthum aufhören und jenes Feſtwerden, gleichſam
Erſtarren des Geiſtes eintreten, allein es muß hiebei in
Betrachtung gezogen werden, daß auch wieder, je prägnan¬
ter überhaupt die Energie des Geiſtes iſt, ſie auch um ſo
früher in ihrer Eigenthümlichkeit ſich andeuten wird, und
hieraus geht denn gewöhnlich gerade das umgekehrte Ver¬
hältniß hervor, eben weil die bedeutende Individualität das
Bedürfniß hat weiter hinaus als die unbedeutende ihr Wachs¬
thum auszudehnen. Aus dieſem Grunde zeigt ſich bei Na¬
turen, welche der Ausdruck einer energiſchen Idee ſind,
größtentheils ſchon in ganz jungen Jahren etwas Abſon¬
derliches, eine ſehr beſtimmte Anlage zu einer ſcharf aus¬
geprägten Perſönlichkeit, und deſſen ungeachtet wachſen ſie
geiſtig mit Macht und Ausdauer bis in ſpäte Lebensepochen
fort. Ob dabei die wirklich ſcharf ausgeprägte Perſönlich¬
keit, das was wir Charakter nennen, zeitiger oder ſpäter
hervortritt, hängt gewöhnlich von der beſondern Lebens¬
richtung, d. h. davon ab, ob mehr in den Regionen des
Erkennens, mehr in den des Gemüths, oder mehr in denen
des Willens und der That, die geiſtige Entwicklung fort¬
ſchreitet. Schon oben iſt davon die Rede geweſen, wie
ſelbſt auf das An-ſich-ſein der Idee, das Erkennen, das
Gefühl, die Willensregung, verſchieden wirke; hier muß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0264" n="248"/>
denheit und Untreue vor. &#x2014; Verhältni&#x017F;&#x017F;e zwi&#x017F;chen welchen<lb/>
dann natürlich eine voll&#x017F;tändige Ausgleichung und Be¬<lb/>
freundung nie möglich i&#x017F;t. Das Geheimniß des Gegen¬<lb/>
&#x017F;atzes welchen <hi rendition="#g">Göthe</hi> in &#x017F;einem <hi rendition="#g">Ta&#x017F;&#x017F;o</hi> und <hi rendition="#g">Antonio</hi> &#x017F;o<lb/>
ergreifend darge&#x017F;tellt, beruht ganz auf dem Gewahrwerden<lb/>
die&#x017F;er ur&#x017F;prünglichen Ver&#x017F;chiedenheit der Gei&#x017F;ter im Krei&#x017F;e<lb/>
der Men&#x017F;chheit.</p><lb/>
          <p>Eben &#x017F;o bietet &#x017F;ich eine große Ver&#x017F;chiedenheit dar, je<lb/>
nachdem die Be&#x017F;timmtheit in der Unbe&#x017F;timmtheit des Gei&#x017F;tes<lb/>
früher oder &#x017F;päter hervortritt. Man möchte wohl voraus¬<lb/>
&#x017F;etzen, daß je zeitiger die Per&#x017F;önlichkeit, die be&#x017F;timmte In¬<lb/>
dividualität des Gei&#x017F;tes &#x017F;ich hervorthue, de&#x017F;to früher mü&#x017F;&#x017F;e<lb/>
ihr Wachsthum aufhören und jenes Fe&#x017F;twerden, gleich&#x017F;am<lb/>
Er&#x017F;tarren des Gei&#x017F;tes eintreten, allein es muß hiebei in<lb/>
Betrachtung gezogen werden, daß auch wieder, je prägnan¬<lb/>
ter überhaupt die Energie des Gei&#x017F;tes i&#x017F;t, &#x017F;ie auch um &#x017F;o<lb/>
früher in ihrer Eigenthümlichkeit &#x017F;ich andeuten wird, und<lb/>
hieraus geht denn gewöhnlich gerade das umgekehrte Ver¬<lb/>
hältniß hervor, eben weil die bedeutende Individualität das<lb/>
Bedürfniß hat weiter hinaus als die unbedeutende ihr Wachs¬<lb/>
thum auszudehnen. Aus die&#x017F;em Grunde zeigt &#x017F;ich bei Na¬<lb/>
turen, welche der Ausdruck einer energi&#x017F;chen Idee &#x017F;ind,<lb/>
größtentheils &#x017F;chon in ganz jungen Jahren etwas Ab&#x017F;on¬<lb/>
derliches, eine &#x017F;ehr be&#x017F;timmte Anlage zu einer &#x017F;charf aus¬<lb/>
geprägten Per&#x017F;önlichkeit, und de&#x017F;&#x017F;en ungeachtet wach&#x017F;en &#x017F;ie<lb/>
gei&#x017F;tig mit Macht und Ausdauer bis in &#x017F;päte Lebensepochen<lb/>
fort. Ob dabei die wirklich &#x017F;charf ausgeprägte Per&#x017F;önlich¬<lb/>
keit, das was wir Charakter nennen, zeitiger oder &#x017F;päter<lb/>
hervortritt, hängt gewöhnlich von der be&#x017F;ondern Lebens¬<lb/>
richtung, d. h. davon ab, ob mehr in den Regionen des<lb/>
Erkennens, mehr in den des Gemüths, oder mehr in denen<lb/>
des Willens und der That, die gei&#x017F;tige Entwicklung fort¬<lb/>
&#x017F;chreitet. Schon oben i&#x017F;t davon die Rede gewe&#x017F;en, wie<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t auf das An-&#x017F;ich-&#x017F;ein der Idee, das Erkennen, das<lb/>
Gefühl, die Willensregung, ver&#x017F;chieden wirke; hier muß<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[248/0264] denheit und Untreue vor. — Verhältniſſe zwiſchen welchen dann natürlich eine vollſtändige Ausgleichung und Be¬ freundung nie möglich iſt. Das Geheimniß des Gegen¬ ſatzes welchen Göthe in ſeinem Taſſo und Antonio ſo ergreifend dargeſtellt, beruht ganz auf dem Gewahrwerden dieſer urſprünglichen Verſchiedenheit der Geiſter im Kreiſe der Menſchheit. Eben ſo bietet ſich eine große Verſchiedenheit dar, je nachdem die Beſtimmtheit in der Unbeſtimmtheit des Geiſtes früher oder ſpäter hervortritt. Man möchte wohl voraus¬ ſetzen, daß je zeitiger die Perſönlichkeit, die beſtimmte In¬ dividualität des Geiſtes ſich hervorthue, deſto früher müſſe ihr Wachsthum aufhören und jenes Feſtwerden, gleichſam Erſtarren des Geiſtes eintreten, allein es muß hiebei in Betrachtung gezogen werden, daß auch wieder, je prägnan¬ ter überhaupt die Energie des Geiſtes iſt, ſie auch um ſo früher in ihrer Eigenthümlichkeit ſich andeuten wird, und hieraus geht denn gewöhnlich gerade das umgekehrte Ver¬ hältniß hervor, eben weil die bedeutende Individualität das Bedürfniß hat weiter hinaus als die unbedeutende ihr Wachs¬ thum auszudehnen. Aus dieſem Grunde zeigt ſich bei Na¬ turen, welche der Ausdruck einer energiſchen Idee ſind, größtentheils ſchon in ganz jungen Jahren etwas Abſon¬ derliches, eine ſehr beſtimmte Anlage zu einer ſcharf aus¬ geprägten Perſönlichkeit, und deſſen ungeachtet wachſen ſie geiſtig mit Macht und Ausdauer bis in ſpäte Lebensepochen fort. Ob dabei die wirklich ſcharf ausgeprägte Perſönlich¬ keit, das was wir Charakter nennen, zeitiger oder ſpäter hervortritt, hängt gewöhnlich von der beſondern Lebens¬ richtung, d. h. davon ab, ob mehr in den Regionen des Erkennens, mehr in den des Gemüths, oder mehr in denen des Willens und der That, die geiſtige Entwicklung fort¬ ſchreitet. Schon oben iſt davon die Rede geweſen, wie ſelbſt auf das An-ſich-ſein der Idee, das Erkennen, das Gefühl, die Willensregung, verſchieden wirke; hier muß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/264
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/264>, abgerufen am 18.05.2024.