Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

der regelmäßig, bevor eigenthümliche Anfälle von Brust¬
krämpfen ihn quälten, träumte von Katzen gebissen zu werden,
einen andern, dem immer vor einer gewissen Art von Kopf¬
schmerzen schwer einher trabende oder ihn anfallende Stiere
im Traume erschienen, u. s. w. Diese Art der Traum¬
poesie muß also auf solche Weise vollkommen verständlich
genannt werden.

Es gibt indeß noch eine andre Art von Poesie, ja
von Seherkunst des Traums, zu deren Verständniß das
Vorhergehende keinesweges zureicht, sondern wobei an eine
früher schon gewonnene Erkenntniß zurück erinnert werden
muß. Als wir nämlich die verschiedenen Eigenschaften des
Unbewußten im Verhältniß zum Bewußten erörterten, mußte
auch erwähnt werden, daß das Unbewußte ein Allgemeineres
sei, daß, wenn das Bewußte des Organismus erst die
Individualität und zuhöchst die Persönlichkeit und Freiheit
erscheinen lasse, das Unbewußte des Organismus dagegen
ihn enger an das allgemeine Leben der Welt binde, ihn
gleichsam verallgemeinere, und daß er daher, als ein
Unbewußtes, eigentlich auch von allen Regungen der Welt
durchzogen sei und daran Theil habe, ja daß in ihm nicht
allein Fernes und Nahes und überhaupt Räumliches, sondern
auch Vergangenes und Zukünftiges und überhaupt Zeit¬
liches sich durchdringe und begegne. Wissen wir nun, daß
der Schlaf ein eigenthümliches Befangensein des Bewußt¬
seins im Unbewußten, mit Aufheben des Wissens von einer
wirklichen Welt und der Wirksamkeit gegen eine solche, dar¬
stellt, so können wir auch begreifen wie in diesem wunder¬
lichen Zustande allerdings die Seele, eben wegen ihres tiefern
Eingetauchtseins im Unbewußten, mehr als in ihrem freien
bewußten Zustande participiren müsse an jenem Miteinge¬
flochtensein im Allgemeinen und an dem Durchdrungensein
von allem Räumlichen und Zeitlichen, wie es dem Unbe¬
wußten überhaupt zukommt. Von hier aus wird uns dann
verständlich wie dem im Unbewußten befangenen Bewußten

der regelmäßig, bevor eigenthümliche Anfälle von Bruſt¬
krämpfen ihn quälten, träumte von Katzen gebiſſen zu werden,
einen andern, dem immer vor einer gewiſſen Art von Kopf¬
ſchmerzen ſchwer einher trabende oder ihn anfallende Stiere
im Traume erſchienen, u. ſ. w. Dieſe Art der Traum¬
poeſie muß alſo auf ſolche Weiſe vollkommen verſtändlich
genannt werden.

Es gibt indeß noch eine andre Art von Poeſie, ja
von Seherkunſt des Traums, zu deren Verſtändniß das
Vorhergehende keinesweges zureicht, ſondern wobei an eine
früher ſchon gewonnene Erkenntniß zurück erinnert werden
muß. Als wir nämlich die verſchiedenen Eigenſchaften des
Unbewußten im Verhältniß zum Bewußten erörterten, mußte
auch erwähnt werden, daß das Unbewußte ein Allgemeineres
ſei, daß, wenn das Bewußte des Organismus erſt die
Individualität und zuhöchſt die Perſönlichkeit und Freiheit
erſcheinen laſſe, das Unbewußte des Organismus dagegen
ihn enger an das allgemeine Leben der Welt binde, ihn
gleichſam verallgemeinere, und daß er daher, als ein
Unbewußtes, eigentlich auch von allen Regungen der Welt
durchzogen ſei und daran Theil habe, ja daß in ihm nicht
allein Fernes und Nahes und überhaupt Räumliches, ſondern
auch Vergangenes und Zukünftiges und überhaupt Zeit¬
liches ſich durchdringe und begegne. Wiſſen wir nun, daß
der Schlaf ein eigenthümliches Befangenſein des Bewußt¬
ſeins im Unbewußten, mit Aufheben des Wiſſens von einer
wirklichen Welt und der Wirkſamkeit gegen eine ſolche, dar¬
ſtellt, ſo können wir auch begreifen wie in dieſem wunder¬
lichen Zuſtande allerdings die Seele, eben wegen ihres tiefern
Eingetauchtſeins im Unbewußten, mehr als in ihrem freien
bewußten Zuſtande participiren müſſe an jenem Miteinge¬
flochtenſein im Allgemeinen und an dem Durchdrungenſein
von allem Räumlichen und Zeitlichen, wie es dem Unbe¬
wußten überhaupt zukommt. Von hier aus wird uns dann
verſtändlich wie dem im Unbewußten befangenen Bewußten

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0235" n="219"/>
der regelmäßig, bevor eigenthümliche Anfälle von Bru&#x017F;<lb/>
krämpfen ihn quälten, träumte von Katzen gebi&#x017F;&#x017F;en zu werden,<lb/>
einen andern, dem immer vor einer gewi&#x017F;&#x017F;en Art von Kopf¬<lb/>
&#x017F;chmerzen &#x017F;chwer einher trabende oder ihn anfallende Stiere<lb/>
im Traume er&#x017F;chienen, u. &#x017F;. w. <hi rendition="#g">Die&#x017F;e</hi> Art der Traum¬<lb/>
poe&#x017F;ie muß al&#x017F;o auf &#x017F;olche Wei&#x017F;e vollkommen ver&#x017F;tändlich<lb/>
genannt werden.</p><lb/>
          <p>Es gibt indeß noch eine andre Art von Poe&#x017F;ie, ja<lb/>
von Seherkun&#x017F;t des Traums, zu deren Ver&#x017F;tändniß das<lb/>
Vorhergehende keinesweges zureicht, &#x017F;ondern wobei an eine<lb/>
früher &#x017F;chon gewonnene Erkenntniß zurück erinnert werden<lb/>
muß. Als wir nämlich die ver&#x017F;chiedenen Eigen&#x017F;chaften des<lb/>
Unbewußten im Verhältniß zum Bewußten erörterten, mußte<lb/>
auch erwähnt werden, daß das Unbewußte ein Allgemeineres<lb/>
&#x017F;ei, daß, wenn das Bewußte des Organismus er&#x017F;t die<lb/>
Individualität und zuhöch&#x017F;t die Per&#x017F;önlichkeit und Freiheit<lb/>
er&#x017F;cheinen la&#x017F;&#x017F;e, das Unbewußte des Organismus dagegen<lb/>
ihn enger an das allgemeine Leben der Welt binde, ihn<lb/>
gleich&#x017F;am <hi rendition="#g">verallgemeinere</hi>, und daß er daher, als ein<lb/>
Unbewußtes, eigentlich auch von allen Regungen der Welt<lb/>
durchzogen &#x017F;ei und daran Theil habe, ja daß in ihm nicht<lb/>
allein Fernes und Nahes und überhaupt Räumliches, &#x017F;ondern<lb/>
auch Vergangenes und Zukünftiges und überhaupt Zeit¬<lb/>
liches &#x017F;ich durchdringe und begegne. Wi&#x017F;&#x017F;en wir nun, daß<lb/>
der Schlaf ein eigenthümliches Befangen&#x017F;ein des Bewußt¬<lb/>
&#x017F;eins im Unbewußten, mit Aufheben des Wi&#x017F;&#x017F;ens von einer<lb/>
wirklichen Welt und der Wirk&#x017F;amkeit gegen eine &#x017F;olche, dar¬<lb/>
&#x017F;tellt, &#x017F;o können wir auch begreifen wie in die&#x017F;em wunder¬<lb/>
lichen Zu&#x017F;tande allerdings die Seele, eben wegen ihres tiefern<lb/>
Eingetaucht&#x017F;eins im Unbewußten, mehr als in ihrem freien<lb/>
bewußten Zu&#x017F;tande participiren mü&#x017F;&#x017F;e an jenem Miteinge¬<lb/>
flochten&#x017F;ein im Allgemeinen und an dem Durchdrungen&#x017F;ein<lb/>
von allem Räumlichen und Zeitlichen, wie es dem Unbe¬<lb/>
wußten überhaupt zukommt. Von hier aus wird uns dann<lb/>
ver&#x017F;tändlich wie dem im Unbewußten befangenen Bewußten<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[219/0235] der regelmäßig, bevor eigenthümliche Anfälle von Bruſt¬ krämpfen ihn quälten, träumte von Katzen gebiſſen zu werden, einen andern, dem immer vor einer gewiſſen Art von Kopf¬ ſchmerzen ſchwer einher trabende oder ihn anfallende Stiere im Traume erſchienen, u. ſ. w. Dieſe Art der Traum¬ poeſie muß alſo auf ſolche Weiſe vollkommen verſtändlich genannt werden. Es gibt indeß noch eine andre Art von Poeſie, ja von Seherkunſt des Traums, zu deren Verſtändniß das Vorhergehende keinesweges zureicht, ſondern wobei an eine früher ſchon gewonnene Erkenntniß zurück erinnert werden muß. Als wir nämlich die verſchiedenen Eigenſchaften des Unbewußten im Verhältniß zum Bewußten erörterten, mußte auch erwähnt werden, daß das Unbewußte ein Allgemeineres ſei, daß, wenn das Bewußte des Organismus erſt die Individualität und zuhöchſt die Perſönlichkeit und Freiheit erſcheinen laſſe, das Unbewußte des Organismus dagegen ihn enger an das allgemeine Leben der Welt binde, ihn gleichſam verallgemeinere, und daß er daher, als ein Unbewußtes, eigentlich auch von allen Regungen der Welt durchzogen ſei und daran Theil habe, ja daß in ihm nicht allein Fernes und Nahes und überhaupt Räumliches, ſondern auch Vergangenes und Zukünftiges und überhaupt Zeit¬ liches ſich durchdringe und begegne. Wiſſen wir nun, daß der Schlaf ein eigenthümliches Befangenſein des Bewußt¬ ſeins im Unbewußten, mit Aufheben des Wiſſens von einer wirklichen Welt und der Wirkſamkeit gegen eine ſolche, dar¬ ſtellt, ſo können wir auch begreifen wie in dieſem wunder¬ lichen Zuſtande allerdings die Seele, eben wegen ihres tiefern Eingetauchtſeins im Unbewußten, mehr als in ihrem freien bewußten Zuſtande participiren müſſe an jenem Miteinge¬ flochtenſein im Allgemeinen und an dem Durchdrungenſein von allem Räumlichen und Zeitlichen, wie es dem Unbe¬ wußten überhaupt zukommt. Von hier aus wird uns dann verſtändlich wie dem im Unbewußten befangenen Bewußten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/235
Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/235>, abgerufen am 05.05.2024.