merkwürdigsten innern Gesetzen seines eigensten unbewußten Wesens gliedert sich das ursprünglich Einfache in Gegen¬ sätze, gestaltet und vergrößert sich der unendliche Reichthum menschlicher Bildung, aber -- noch ist diese Bildung sehr, ja ausnehmend verschieden von der des reifen Menschen.
Ein im Ei keimender, ein von Hüllen umgebener Embryo, alle seine der spätern Wechselwirkung mit der Welt bestimmten Organe noch nach dem Innern der Hüllen gekehrt, so stellt er sich dar in dieser Lebensperiode, und nichts ist auch hier, was in diesem Eigeschöpf irgend ein Aufdämmern eines Bewußtseins verriethe. In unserer ge¬ reiften Seele ist daher auch nichts was irgend an und für sich eine Erinnerung jenes Lebens, eine Reminiscenz aus unserer zweiten Lebensperiode genannt werden könnte. Alles Dasein ist demnach dort ein, ob zwar unbewußt, doch nach wunderbaren Gesetzen, fort und fort mit großer Weisheit bildendes gestaltendes Leben.
Mit der Geburt hebt die dritte und eigentlich menschliche Lebensperiode an, und wie eine weite Außen¬ welt mit dem Organismus in mannichfaltige Wechselwir¬ kung tritt, so dämmert allmählig in den dunkeln, bis dahin bewußtlosen Regionen des Lebens, d. i. der Seele, eine schwache Unterscheidung des eigenen Seins vom fremden Sein auf, und nach und nach und mit periodisch immer wiederkehrendem Versinken in's unbewußte Leben, ent¬ wickelt sich bei herannahender Lebensreife die eigenthümliche Welt der selbstbewußten, fühlenden, wollenden und erken¬ nenden Seele aus jenem frühern bewußtlosen Zustande.
Dies in ganz flüchtigem Umrisse die Wesenheit unserer Entwicklung als Mensch, als Seele. Nur wenn wir uns streng an die Erkenntniß hievon festhalten, nur wenn wir uns hüten, hier irgend willkürlich etwas hinzuzudenken, nur wenn wir treu und ausdauernd in uns schauen und dazu gelangen -- ich möchte sagen, unser Dasein geistig zu reconstruiren -- von dem bewußten Sein
merkwürdigſten innern Geſetzen ſeines eigenſten unbewußten Weſens gliedert ſich das urſprünglich Einfache in Gegen¬ ſätze, geſtaltet und vergrößert ſich der unendliche Reichthum menſchlicher Bildung, aber — noch iſt dieſe Bildung ſehr, ja ausnehmend verſchieden von der des reifen Menſchen.
Ein im Ei keimender, ein von Hüllen umgebener Embryo, alle ſeine der ſpätern Wechſelwirkung mit der Welt beſtimmten Organe noch nach dem Innern der Hüllen gekehrt, ſo ſtellt er ſich dar in dieſer Lebensperiode, und nichts iſt auch hier, was in dieſem Eigeſchöpf irgend ein Aufdämmern eines Bewußtſeins verriethe. In unſerer ge¬ reiften Seele iſt daher auch nichts was irgend an und für ſich eine Erinnerung jenes Lebens, eine Reminiscenz aus unſerer zweiten Lebensperiode genannt werden könnte. Alles Daſein iſt demnach dort ein, ob zwar unbewußt, doch nach wunderbaren Geſetzen, fort und fort mit großer Weisheit bildendes geſtaltendes Leben.
Mit der Geburt hebt die dritte und eigentlich menſchliche Lebensperiode an, und wie eine weite Außen¬ welt mit dem Organismus in mannichfaltige Wechſelwir¬ kung tritt, ſo dämmert allmählig in den dunkeln, bis dahin bewußtloſen Regionen des Lebens, d. i. der Seele, eine ſchwache Unterſcheidung des eigenen Seins vom fremden Sein auf, und nach und nach und mit periodiſch immer wiederkehrendem Verſinken in's unbewußte Leben, ent¬ wickelt ſich bei herannahender Lebensreife die eigenthümliche Welt der ſelbſtbewußten, fühlenden, wollenden und erken¬ nenden Seele aus jenem frühern bewußtloſen Zuſtande.
Dies in ganz flüchtigem Umriſſe die Weſenheit unſerer Entwicklung als Menſch, als Seele. Nur wenn wir uns ſtreng an die Erkenntniß hievon feſthalten, nur wenn wir uns hüten, hier irgend willkürlich etwas hinzuzudenken, nur wenn wir treu und ausdauernd in uns ſchauen und dazu gelangen — ich möchte ſagen, unſer Daſein geiſtig zu reconſtruiren — von dem bewußten Sein
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merkwürdigſten innern Geſetzen ſeines eigenſten unbewußten
Weſens gliedert ſich das urſprünglich Einfache in Gegen¬
ſätze, geſtaltet und vergrößert ſich der unendliche Reichthum
menſchlicher Bildung, aber — noch iſt dieſe Bildung ſehr,
ja ausnehmend verſchieden von der des reifen Menſchen.
Ein im Ei keimender, ein von Hüllen umgebener
Embryo, alle ſeine der ſpätern Wechſelwirkung mit der
Welt beſtimmten Organe noch nach dem Innern der Hüllen
gekehrt, ſo ſtellt er ſich dar in dieſer Lebensperiode, und
nichts iſt auch hier, was in dieſem Eigeſchöpf irgend ein
Aufdämmern eines Bewußtſeins verriethe. In unſerer ge¬
reiften Seele iſt daher auch nichts was irgend an und
für ſich eine Erinnerung jenes Lebens, eine Reminiscenz
aus unſerer zweiten Lebensperiode genannt werden könnte.
Alles Daſein iſt demnach dort ein, ob zwar unbewußt,
doch nach wunderbaren Geſetzen, fort und fort mit großer
Weisheit bildendes geſtaltendes Leben.
Mit der Geburt hebt die dritte und eigentlich
menſchliche Lebensperiode an, und wie eine weite Außen¬
welt mit dem Organismus in mannichfaltige Wechſelwir¬
kung tritt, ſo dämmert allmählig in den dunkeln, bis dahin
bewußtloſen Regionen des Lebens, d. i. der Seele, eine
ſchwache Unterſcheidung des eigenen Seins vom fremden
Sein auf, und nach und nach und mit periodiſch immer
wiederkehrendem Verſinken in's unbewußte Leben, ent¬
wickelt ſich bei herannahender Lebensreife die eigenthümliche
Welt der ſelbſtbewußten, fühlenden, wollenden und erken¬
nenden Seele aus jenem frühern bewußtloſen Zuſtande.
Dies in ganz flüchtigem Umriſſe die Weſenheit unſerer
Entwicklung als Menſch, als Seele. Nur wenn wir uns
ſtreng an die Erkenntniß hievon feſthalten, nur wenn wir
uns hüten, hier irgend willkürlich etwas hinzuzudenken,
nur wenn wir treu und ausdauernd in uns ſchauen und
dazu gelangen — ich möchte ſagen, unſer Daſein
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/19>, abgerufen am 29.01.2025.
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