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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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der Vögel nennt. Die Art wie besonders manche der über¬
haupt geistig mehr entwickelten Singvögel an eine ihnen
ungewohnte -- mit keinem ihrer Natur- und Kunsttriebe
in Beziehung stehende Erscheinung herankommen, der merk¬
würdige Blick ihres Auges, den man dann gewahr werden
kann, die Aufmerksamkeit und die Wiederkehr, die sie sol¬
chem Gegenstande widmen -- sie geben ein Vorbild von
Dem was im Menschen zur geistigen, erkennenden, intelli¬
genten Anschauung sich entwickelt. Selbst die Unterscheidung
der Personen tritt in den Vögeln -- besonders zahmen
Papageien -- sehr deutlich hervor; und -- was sehr be¬
merkenswerth ist -- mit der auftretenden Erkenntniß er¬
scheint sogleich, als unzertrennlicher Begleiter, auch der
Irrthum
-- das Irren, das sich Täuschen, welches das
absolut Unbewußte natürlich ausschließt. Thiere dieser Art
täuschen sich schon oft -- ein zahmer Kakadu erschrack oft
vor einer fliegenden Feder oder des etwas, und sein ängst¬
licher Blick verrieth, daß er sie für einen Feind -- etwa
für einen Raubvogel, hielt. Die Möglichkeit eines
Irrens aber ist der erste Schritt zur Erkenntniß
der Wahrheit
; auch wir lernen die Welt nur kennen
durch vieles Irren.

Alles Erkennen vergleicht übrigens frisch zugeleitete
Vorstellungen mit länger schon bewährten, und setzt also
Erinnerung voraus. So erkennen denn und unterscheiden
die höher entwickelten, dem Menschen näher gestellten Säu¬
gethiere noch bestimmter die Sachen und Personen, sie mer¬
ken sich und erkennen Oertlichkeiten -- z. B. Wege -- mit
großer Präcision, sie lernen Worte verstehen und behalten,
und wenn die Vögel schon Worte wiederholen, Melodien
lernen u. dgl., so ist doch gerade hiebei schon wieder mehr
Unbewußtes einwirkend, ein Unbewußtes, welches, dieweil
es mehr auf directe Uebertragung der Gehörsempfindung
an die Stimmorgane hinweist -- nicht so klares Verständ¬
niß des Aufgenommenen voraussetzt und voraussetzen kann,

Carus, Psyche. 10

der Vögel nennt. Die Art wie beſonders manche der über¬
haupt geiſtig mehr entwickelten Singvögel an eine ihnen
ungewohnte — mit keinem ihrer Natur- und Kunſttriebe
in Beziehung ſtehende Erſcheinung herankommen, der merk¬
würdige Blick ihres Auges, den man dann gewahr werden
kann, die Aufmerkſamkeit und die Wiederkehr, die ſie ſol¬
chem Gegenſtande widmen — ſie geben ein Vorbild von
Dem was im Menſchen zur geiſtigen, erkennenden, intelli¬
genten Anſchauung ſich entwickelt. Selbſt die Unterſcheidung
der Perſonen tritt in den Vögeln — beſonders zahmen
Papageien — ſehr deutlich hervor; und — was ſehr be¬
merkenswerth iſt — mit der auftretenden Erkenntniß er¬
ſcheint ſogleich, als unzertrennlicher Begleiter, auch der
Irrthum
— das Irren, das ſich Täuſchen, welches das
abſolut Unbewußte natürlich ausſchließt. Thiere dieſer Art
täuſchen ſich ſchon oft — ein zahmer Kakadu erſchrack oft
vor einer fliegenden Feder oder des etwas, und ſein ängſt¬
licher Blick verrieth, daß er ſie für einen Feind — etwa
für einen Raubvogel, hielt. Die Möglichkeit eines
Irrens aber iſt der erſte Schritt zur Erkenntniß
der Wahrheit
; auch wir lernen die Welt nur kennen
durch vieles Irren.

Alles Erkennen vergleicht übrigens friſch zugeleitete
Vorſtellungen mit länger ſchon bewährten, und ſetzt alſo
Erinnerung voraus. So erkennen denn und unterſcheiden
die höher entwickelten, dem Menſchen näher geſtellten Säu¬
gethiere noch beſtimmter die Sachen und Perſonen, ſie mer¬
ken ſich und erkennen Oertlichkeiten — z. B. Wege — mit
großer Präciſion, ſie lernen Worte verſtehen und behalten,
und wenn die Vögel ſchon Worte wiederholen, Melodien
lernen u. dgl., ſo iſt doch gerade hiebei ſchon wieder mehr
Unbewußtes einwirkend, ein Unbewußtes, welches, dieweil
es mehr auf directe Uebertragung der Gehörsempfindung
an die Stimmorgane hinweist — nicht ſo klares Verſtänd¬
niß des Aufgenommenen vorausſetzt und vorausſetzen kann,

Carus, Pſyche. 10
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[145/0161] der Vögel nennt. Die Art wie beſonders manche der über¬ haupt geiſtig mehr entwickelten Singvögel an eine ihnen ungewohnte — mit keinem ihrer Natur- und Kunſttriebe in Beziehung ſtehende Erſcheinung herankommen, der merk¬ würdige Blick ihres Auges, den man dann gewahr werden kann, die Aufmerkſamkeit und die Wiederkehr, die ſie ſol¬ chem Gegenſtande widmen — ſie geben ein Vorbild von Dem was im Menſchen zur geiſtigen, erkennenden, intelli¬ genten Anſchauung ſich entwickelt. Selbſt die Unterſcheidung der Perſonen tritt in den Vögeln — beſonders zahmen Papageien — ſehr deutlich hervor; und — was ſehr be¬ merkenswerth iſt — mit der auftretenden Erkenntniß er¬ ſcheint ſogleich, als unzertrennlicher Begleiter, auch der Irrthum — das Irren, das ſich Täuſchen, welches das abſolut Unbewußte natürlich ausſchließt. Thiere dieſer Art täuſchen ſich ſchon oft — ein zahmer Kakadu erſchrack oft vor einer fliegenden Feder oder des etwas, und ſein ängſt¬ licher Blick verrieth, daß er ſie für einen Feind — etwa für einen Raubvogel, hielt. Die Möglichkeit eines Irrens aber iſt der erſte Schritt zur Erkenntniß der Wahrheit; auch wir lernen die Welt nur kennen durch vieles Irren. Alles Erkennen vergleicht übrigens friſch zugeleitete Vorſtellungen mit länger ſchon bewährten, und ſetzt alſo Erinnerung voraus. So erkennen denn und unterſcheiden die höher entwickelten, dem Menſchen näher geſtellten Säu¬ gethiere noch beſtimmter die Sachen und Perſonen, ſie mer¬ ken ſich und erkennen Oertlichkeiten — z. B. Wege — mit großer Präciſion, ſie lernen Worte verſtehen und behalten, und wenn die Vögel ſchon Worte wiederholen, Melodien lernen u. dgl., ſo iſt doch gerade hiebei ſchon wieder mehr Unbewußtes einwirkend, ein Unbewußtes, welches, dieweil es mehr auf directe Uebertragung der Gehörsempfindung an die Stimmorgane hinweist — nicht ſo klares Verſtänd¬ niß des Aufgenommenen vorausſetzt und vorausſetzen kann, Carus, Pſyche. 10

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/161>, abgerufen am 23.11.2024.