vorbringend, und eben darum auch der Begriff der Totalität nie vollkommen abschließend. Schon der Laie, ohne sich des höhern Grundes bewußt zu sein, trennt daher Theile der Pflanze ab mit andern Vorstellungen und Gefühlen als bei einem Thiere, er wird jene gewissermaßen immer für ein Stückwerk, und dieses immer für ein Ganzes nehmen; ein Blatt, eine Blume abzubrechen geschieht mit Lust, ein Glied eines lebenden Thieres abzulösen wird ihm jedesmal schmerzlich sein. Die Pflanze hat aus jenem Grunde keine Eingeweide und keine in dem Sinne wie beim Thiere ver¬ schiedne Organe -- es kann daher auch nicht, im Gegensatze zu wesentlich heterogen werdenden Organen, ein solches Ur-Gebilde wie das Nervensystem übrig bleiben; -- kurz, sie bleibt wesentlich immer nur eine Vielheit von Ein¬ heiten, es fehlt ihr ein solches inneres Centrum, wie es das Thier hat, und, obwohl auch sie nicht ohne eine ge¬ wisse Totalität sein kann, so ist der Begriff derselben nie dergestalt abgeschlossen wie im Thierreiche, woraus denn einmal folgt, daß der Begriff höherer und niederer Or¬ ganisation, welcher im Thierreiche so deutlich sich zu erken¬ nen gibt, im Pflanzenreiche immer sehr unvollkommen sich ausspricht (es wird immer streitig bleiben, welche man als die höchsten Pflanzen betrachten soll); ein andermal folgt, daß, indem der Pflanze ein wahrhaft centrales System und dadurch ein vollkommnes Band der Einheit und Ganz¬ heit fehlt, von irgend einer Art des Bewußtseins hier noch keinesweges die Rede sein könne. Wenn wir sonach mit dem Namen der Seele nur diejenige Idee zu bezeichnen pflegen, in welcher irgend ein Bewußtsein wirklich sich ent¬ wickelt hat, so ergibt sich aus Obigem deutlich, daß von der Pflanze noch nicht ausgesagt werden könne, es sei ihr eine Seele gegeben. Auch hierin hat der natürliche Sinn die Völker ganz richtig geführt, und weder in unsrer noch in andern Sprachen ist von einer Seele der Pflanzen jemals die Rede gewesen, obwohl daß ein eigenthümliches
Carus, Psyche. 8
vorbringend, und eben darum auch der Begriff der Totalität nie vollkommen abſchließend. Schon der Laie, ohne ſich des höhern Grundes bewußt zu ſein, trennt daher Theile der Pflanze ab mit andern Vorſtellungen und Gefühlen als bei einem Thiere, er wird jene gewiſſermaßen immer für ein Stückwerk, und dieſes immer für ein Ganzes nehmen; ein Blatt, eine Blume abzubrechen geſchieht mit Luſt, ein Glied eines lebenden Thieres abzulöſen wird ihm jedesmal ſchmerzlich ſein. Die Pflanze hat aus jenem Grunde keine Eingeweide und keine in dem Sinne wie beim Thiere ver¬ ſchiedne Organe — es kann daher auch nicht, im Gegenſatze zu weſentlich heterogen werdenden Organen, ein ſolches Ur-Gebilde wie das Nervenſyſtem übrig bleiben; — kurz, ſie bleibt weſentlich immer nur eine Vielheit von Ein¬ heiten, es fehlt ihr ein ſolches inneres Centrum, wie es das Thier hat, und, obwohl auch ſie nicht ohne eine ge¬ wiſſe Totalität ſein kann, ſo iſt der Begriff derſelben nie dergeſtalt abgeſchloſſen wie im Thierreiche, woraus denn einmal folgt, daß der Begriff höherer und niederer Or¬ ganiſation, welcher im Thierreiche ſo deutlich ſich zu erken¬ nen gibt, im Pflanzenreiche immer ſehr unvollkommen ſich ausſpricht (es wird immer ſtreitig bleiben, welche man als die höchſten Pflanzen betrachten ſoll); ein andermal folgt, daß, indem der Pflanze ein wahrhaft centrales Syſtem und dadurch ein vollkommnes Band der Einheit und Ganz¬ heit fehlt, von irgend einer Art des Bewußtſeins hier noch keinesweges die Rede ſein könne. Wenn wir ſonach mit dem Namen der Seele nur diejenige Idee zu bezeichnen pflegen, in welcher irgend ein Bewußtſein wirklich ſich ent¬ wickelt hat, ſo ergibt ſich aus Obigem deutlich, daß von der Pflanze noch nicht ausgeſagt werden könne, es ſei ihr eine Seele gegeben. Auch hierin hat der natürliche Sinn die Völker ganz richtig geführt, und weder in unſrer noch in andern Sprachen iſt von einer Seele der Pflanzen jemals die Rede geweſen, obwohl daß ein eigenthümliches
Carus, Pſyche. 8
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vorbringend, und eben darum auch der Begriff der Totalität
nie vollkommen abſchließend. Schon der Laie, ohne ſich
des höhern Grundes bewußt zu ſein, trennt daher Theile
der Pflanze ab mit andern Vorſtellungen und Gefühlen
als bei einem Thiere, er wird jene gewiſſermaßen immer für
ein Stückwerk, und dieſes immer für ein Ganzes nehmen;
ein Blatt, eine Blume abzubrechen geſchieht mit Luſt, ein
Glied eines lebenden Thieres abzulöſen wird ihm jedesmal
ſchmerzlich ſein. Die Pflanze hat aus jenem Grunde keine
Eingeweide und keine in dem Sinne wie beim Thiere ver¬
ſchiedne Organe — es kann daher auch nicht, im Gegenſatze
zu weſentlich heterogen werdenden Organen, ein ſolches
Ur-Gebilde wie das Nervenſyſtem übrig bleiben; — kurz,
ſie bleibt weſentlich immer nur eine Vielheit von Ein¬
heiten, es fehlt ihr ein ſolches inneres Centrum, wie es
das Thier hat, und, obwohl auch ſie nicht ohne eine ge¬
wiſſe Totalität ſein kann, ſo iſt der Begriff derſelben nie
dergeſtalt abgeſchloſſen wie im Thierreiche, woraus denn
einmal folgt, daß der Begriff höherer und niederer Or¬
ganiſation, welcher im Thierreiche ſo deutlich ſich zu erken¬
nen gibt, im Pflanzenreiche immer ſehr unvollkommen ſich
ausſpricht (es wird immer ſtreitig bleiben, welche man
als die höchſten Pflanzen betrachten ſoll); ein andermal
folgt, daß, indem der Pflanze ein wahrhaft centrales Syſtem
und dadurch ein vollkommnes Band der Einheit und Ganz¬
heit fehlt, von irgend einer Art des Bewußtſeins hier noch
keinesweges die Rede ſein könne. Wenn wir ſonach mit
dem Namen der Seele nur diejenige Idee zu bezeichnen
pflegen, in welcher irgend ein Bewußtſein wirklich ſich ent¬
wickelt hat, ſo ergibt ſich aus Obigem deutlich, daß von
der Pflanze noch nicht ausgeſagt werden könne, es ſei ihr
eine Seele gegeben. Auch hierin hat der natürliche Sinn
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in andern Sprachen iſt von einer Seele der Pflanzen
jemals die Rede geweſen, obwohl daß ein eigenthümliches
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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/129>, abgerufen am 22.11.2024.
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