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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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lungsgange aus dem Samen zum Keim, zum Stengel
und zur Blüthe, nicht die Gestaltung des ersten Samen¬
korns aus der unbewußten Innerung läßt, und daß sie nur
deßhalb den Samen auf ihrer Lebenshöhe wieder ganz in
derselben Form darbildet, von welcher sie ausging), son¬
dern was dieser Art in dem eigentlich seelischen System
bleibend wird, wird auch dadurch ein unverlierbares Eigen¬
thum der Psyche und gehört nun dem Bewußtsein an, ja
wird eine der wichtigsten Bedingungen für alles Bewußtsein.
Allerdings setzt es ein tieferes Eingehen in die Lehren der
Physiologie voraus, wenn begriffen werden soll, wie an
eine höchst feine Polarisation eines, noch dazu für uns viel¬
leicht nur mikroskopisch erkennbaren Theilchens der Hirnsub¬
stanz, sich irgend eine stete Gegenwart einer lange vor¬
übergegangenen Erregung -- also eben das, was wir nun
eine bleibende Vorstellung nennen -- knüpfen könne, aber
man hat sich nur deutlich zu machen, welche Bewandtniß
es etwa mit dem Verhältniß der Sinnesempfindungen zu
den Erregungen der Sinnesnerven in den Sinnesorganen
hat, und man wird auch jenen Vorgang eher zu verstehen,
eher zu fassen im Stande sein. Welch unendlich feine
Oscillation ist es z. B. in den Hörnerven, welche für
uns in organischer Beziehung die erste Bedingung
der Wahrnehmung etwa einer Symphonie, ja aller Rede
und alles Klanges ist; welche unendlich feine Affectionen
erregt das Licht auf der innern Fläche der Netzhaut nach
Art der Vorgänge, welche im Daguerre'schen Proceß durch
das Licht auf der jodirten Silberplatte hervorgebracht wer¬
den, und doch ist gerade diese so höchst zarte Modification
das zunächst Bedingende für alle die mannichfaltigen Wahr¬
nehmungen des Auges. Wer dergleichen nicht selbst unter¬
sucht hat, dem ist nur zu rathen, daß er einmal das Auge
eines Thieres aufschneide und die scheinbar einfache,
gleichmäßig weiche Netzhaut, die dem unbewaffneten Auge
fast als bloßer grauer Schleim erscheint, aufmerksam betrachte.

lungsgange aus dem Samen zum Keim, zum Stengel
und zur Blüthe, nicht die Geſtaltung des erſten Samen¬
korns aus der unbewußten Innerung läßt, und daß ſie nur
deßhalb den Samen auf ihrer Lebenshöhe wieder ganz in
derſelben Form darbildet, von welcher ſie ausging), ſon¬
dern was dieſer Art in dem eigentlich ſeeliſchen Syſtem
bleibend wird, wird auch dadurch ein unverlierbares Eigen¬
thum der Pſyche und gehört nun dem Bewußtſein an, ja
wird eine der wichtigſten Bedingungen für alles Bewußtſein.
Allerdings ſetzt es ein tieferes Eingehen in die Lehren der
Phyſiologie voraus, wenn begriffen werden ſoll, wie an
eine höchſt feine Polariſation eines, noch dazu für uns viel¬
leicht nur mikroſkopiſch erkennbaren Theilchens der Hirnſub¬
ſtanz, ſich irgend eine ſtete Gegenwart einer lange vor¬
übergegangenen Erregung — alſo eben das, was wir nun
eine bleibende Vorſtellung nennen — knüpfen könne, aber
man hat ſich nur deutlich zu machen, welche Bewandtniß
es etwa mit dem Verhältniß der Sinnesempfindungen zu
den Erregungen der Sinnesnerven in den Sinnesorganen
hat, und man wird auch jenen Vorgang eher zu verſtehen,
eher zu faſſen im Stande ſein. Welch unendlich feine
Oscillation iſt es z. B. in den Hörnerven, welche für
uns in organiſcher Beziehung die erſte Bedingung
der Wahrnehmung etwa einer Symphonie, ja aller Rede
und alles Klanges iſt; welche unendlich feine Affectionen
erregt das Licht auf der innern Fläche der Netzhaut nach
Art der Vorgänge, welche im Daguerre'ſchen Proceß durch
das Licht auf der jodirten Silberplatte hervorgebracht wer¬
den, und doch iſt gerade dieſe ſo höchſt zarte Modification
das zunächſt Bedingende für alle die mannichfaltigen Wahr¬
nehmungen des Auges. Wer dergleichen nicht ſelbſt unter¬
ſucht hat, dem iſt nur zu rathen, daß er einmal das Auge
eines Thieres aufſchneide und die ſcheinbar einfache,
gleichmäßig weiche Netzhaut, die dem unbewaffneten Auge
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[106/0122] lungsgange aus dem Samen zum Keim, zum Stengel und zur Blüthe, nicht die Geſtaltung des erſten Samen¬ korns aus der unbewußten Innerung läßt, und daß ſie nur deßhalb den Samen auf ihrer Lebenshöhe wieder ganz in derſelben Form darbildet, von welcher ſie ausging), ſon¬ dern was dieſer Art in dem eigentlich ſeeliſchen Syſtem bleibend wird, wird auch dadurch ein unverlierbares Eigen¬ thum der Pſyche und gehört nun dem Bewußtſein an, ja wird eine der wichtigſten Bedingungen für alles Bewußtſein. Allerdings ſetzt es ein tieferes Eingehen in die Lehren der Phyſiologie voraus, wenn begriffen werden ſoll, wie an eine höchſt feine Polariſation eines, noch dazu für uns viel¬ leicht nur mikroſkopiſch erkennbaren Theilchens der Hirnſub¬ ſtanz, ſich irgend eine ſtete Gegenwart einer lange vor¬ übergegangenen Erregung — alſo eben das, was wir nun eine bleibende Vorſtellung nennen — knüpfen könne, aber man hat ſich nur deutlich zu machen, welche Bewandtniß es etwa mit dem Verhältniß der Sinnesempfindungen zu den Erregungen der Sinnesnerven in den Sinnesorganen hat, und man wird auch jenen Vorgang eher zu verſtehen, eher zu faſſen im Stande ſein. Welch unendlich feine Oscillation iſt es z. B. in den Hörnerven, welche für uns in organiſcher Beziehung die erſte Bedingung der Wahrnehmung etwa einer Symphonie, ja aller Rede und alles Klanges iſt; welche unendlich feine Affectionen erregt das Licht auf der innern Fläche der Netzhaut nach Art der Vorgänge, welche im Daguerre'ſchen Proceß durch das Licht auf der jodirten Silberplatte hervorgebracht wer¬ den, und doch iſt gerade dieſe ſo höchſt zarte Modification das zunächſt Bedingende für alle die mannichfaltigen Wahr¬ nehmungen des Auges. Wer dergleichen nicht ſelbſt unter¬ ſucht hat, dem iſt nur zu rathen, daß er einmal das Auge eines Thieres aufſchneide und die ſcheinbar einfache, gleichmäßig weiche Netzhaut, die dem unbewaffneten Auge faſt als bloßer grauer Schleim erſcheint, aufmerkſam betrachte.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/122>, abgerufen am 24.11.2024.