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Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745.

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8. Bajeßid der II
"als wenn es seine rechtmäßige Erbschaft wäre. In solche Verachtung ist die
"Majestät des Reiches verfallen, die unter unsern Vorfahrern so hoch verehret
"wurde, und diejenigen, die vor diesem unter dem Namen Bajeßid von den
"benachbarten Völkern als unüberwindliche Helden gefürchtet worden; wer-
"den itzo als zu Unternehmungen ungeschickte und weibische Männer von den-
"selben gespottet und herausgefordert. Wo bleibet nun der Ruhm des olios-
"manischen Zepters? wo ist die gute Kriegeszucht? wo spüret man den Eifer,
"das Gesetz auszubreiten? wo stecken die Regierungskünste? Kann man
"wol bey uns sagen; das Reich werde erweitert? ist es an dem, daß es hei-
"ßet; wir haben mit unsern Feinden zu schaffen? können wir uns wol rüh-
"men; der Eifer unserer bisher unüberwindlichen Kriegsleute sey unterhalten
"worden? Wahrhaftig, nach dieser Art haben unsere ruhmwürdigen Vor-
"fahrer weder ihren Thron aufgerichtet, noch die Grenzen des Reiches erwei-
"tert. Wenn man diese Dinge gehöriger maßen erwäget: so lasset meinen
"Vater selbst urtheilen, ob diejenigen, die entweder durch ihre Einwilligung 55,
"Zulassung oder Nachlässigkeit, Ursache an dieser übeln Verwaltung gewesen
"sind, ohne Strafe bleiben können? Denn, wenn man diesen Verderbnissen
"kein schleuniges Hülfsmittel entgegen setzet: so werden wir den herannahen-
"den und fast unvermeidlichen Untergang unseres Reiches, unserer eigenen
"Trägheit, und nicht der Tapferkeit unserer Feinde, zuschreiben müssen."

29.

Als der Weßir wieder zu dem Sultane zurück kommt, und demsel-Bajeßid tritt
Selim das Reich
ab, und ziehet
nach Dymotika
zu.

ben seines Sohnes Antwort überbringet: so soll Bajeßid darauf gesagt haben;
"Ich sehe nur allzudeutlich, daß meines Sohnes Vorsatz nicht ist, seinen Va-
"ter zu besuchen, sondern das Reich mit Recht oder Unrecht an sich zu ziehen.
"Daß ihm aber auch dasselbe von dem Himmel bestimmet ist: davon hat mich
"ein Traum 56 in der verwichenen Nacht überführet, da ich gesehen, daß meine
[Spaltenumbruch]

lose Sohn suchet hier einen Vorwand, seinen
Vater vom Throne zu stoßen und ums Leben
zu bringen.
56 Traum] Die Türken sind sehr aber-
gläubisch bey den Träumen, und glauben,
daß die reine Seele eines Müsülmans einige
Dinge im Traume vorhersehe und wegen der-
selben gewarnet werde. Sie haben ein Buch,
Wakää Name (Traumbuch) oder Ausleger
der Träume genennet, in dem sie sich bey der-
[Spaltenumbruch]
gleichen Fällen Raths erholen. Sie pflegen
aber zu sagen: Dusch giörende degjül dür,
gjöründe dür; das ist, der Ausgang eines
Traumes beruhet nicht auf dem, der ihn hat,
sondern auf dem, der ihn ausleget. Sobald
daher iemand saget; ich habe diese Nacht ei-
nen Traum gehabt: so rufet gleich die ganze
Gesellschaft; chäjr ola*! und sie glauben da-
bey, wenn gleich die Bedeutung des Traumes
etwas Böses anzeigen sollte: so sey es doch
dadurch nunmehr abgewendet.

"Krone
* es sey gut, oder bedeute etwas Gutes!

8. Bajeßid der II
“als wenn es ſeine rechtmaͤßige Erbſchaft waͤre. In ſolche Verachtung iſt die
“Majeſtaͤt des Reiches verfallen, die unter unſern Vorfahrern ſo hoch verehret
“wurde, und diejenigen, die vor dieſem unter dem Namen Bajeßid von den
“benachbarten Voͤlkern als unuͤberwindliche Helden gefuͤrchtet worden; wer-
“den itzo als zu Unternehmungen ungeſchickte und weibiſche Maͤnner von den-
“ſelben geſpottet und herausgefordert. Wo bleibet nun der Ruhm des olios-
“maniſchen Zepters? wo iſt die gute Kriegeszucht? wo ſpuͤret man den Eifer,
“das Geſetz auszubreiten? wo ſtecken die Regierungskuͤnſte? Kann man
“wol bey uns ſagen; das Reich werde erweitert? iſt es an dem, daß es hei-
“ßet; wir haben mit unſern Feinden zu ſchaffen? koͤnnen wir uns wol ruͤh-
“men; der Eifer unſerer bisher unuͤberwindlichen Kriegsleute ſey unterhalten
“worden? Wahrhaftig, nach dieſer Art haben unſere ruhmwuͤrdigen Vor-
“fahrer weder ihren Thron aufgerichtet, noch die Grenzen des Reiches erwei-
“tert. Wenn man dieſe Dinge gehoͤriger maßen erwaͤget: ſo laſſet meinen
“Vater ſelbſt urtheilen, ob diejenigen, die entweder durch ihre Einwilligung 55,
“Zulaſſung oder Nachlaͤſſigkeit, Urſache an dieſer uͤbeln Verwaltung geweſen
“ſind, ohne Strafe bleiben koͤnnen? Denn, wenn man dieſen Verderbniſſen
“kein ſchleuniges Huͤlfsmittel entgegen ſetzet: ſo werden wir den herannahen-
“den und faſt unvermeidlichen Untergang unſeres Reiches, unſerer eigenen
“Traͤgheit, und nicht der Tapferkeit unſerer Feinde, zuſchreiben muͤſſen.„

29.

Als der Weßir wieder zu dem Sultane zuruͤck kommt, und demſel-Bajeßid tritt
Selim das Reich
ab, und ziehet
nach Dymotika
zu.

ben ſeines Sohnes Antwort uͤberbringet: ſo ſoll Bajeßid darauf geſagt haben;
“Ich ſehe nur allzudeutlich, daß meines Sohnes Vorſatz nicht iſt, ſeinen Va-
“ter zu beſuchen, ſondern das Reich mit Recht oder Unrecht an ſich zu ziehen.
“Daß ihm aber auch daſſelbe von dem Himmel beſtimmet iſt: davon hat mich
“ein Traum 56 in der verwichenen Nacht uͤberfuͤhret, da ich geſehen, daß meine
[Spaltenumbruch]

loſe Sohn ſuchet hier einen Vorwand, ſeinen
Vater vom Throne zu ſtoßen und ums Leben
zu bringen.
56 Traum] Die Tuͤrken ſind ſehr aber-
glaͤubiſch bey den Traͤumen, und glauben,
daß die reine Seele eines Muͤſuͤlmans einige
Dinge im Traume vorherſehe und wegen der-
ſelben gewarnet werde. Sie haben ein Buch,
Wakaͤaͤ Name (Traumbuch) oder Ausleger
der Traͤume genennet, in dem ſie ſich bey der-
[Spaltenumbruch]
gleichen Faͤllen Raths erholen. Sie pflegen
aber zu ſagen: Duſch gioͤrende degjuͤl duͤr,
gjoͤruͤnde duͤr; das iſt, der Ausgang eines
Traumes beruhet nicht auf dem, der ihn hat,
ſondern auf dem, der ihn ausleget. Sobald
daher iemand ſaget; ich habe dieſe Nacht ei-
nen Traum gehabt: ſo rufet gleich die ganze
Geſellſchaft; chaͤjr ola*! und ſie glauben da-
bey, wenn gleich die Bedeutung des Traumes
etwas Boͤſes anzeigen ſollte: ſo ſey es doch
dadurch nunmehr abgewendet.

“Krone
* es ſey gut, oder bedeute etwas Gutes!
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[207/0293] 8. Bajeßid der II “als wenn es ſeine rechtmaͤßige Erbſchaft waͤre. In ſolche Verachtung iſt die “Majeſtaͤt des Reiches verfallen, die unter unſern Vorfahrern ſo hoch verehret “wurde, und diejenigen, die vor dieſem unter dem Namen Bajeßid von den “benachbarten Voͤlkern als unuͤberwindliche Helden gefuͤrchtet worden; wer- “den itzo als zu Unternehmungen ungeſchickte und weibiſche Maͤnner von den- “ſelben geſpottet und herausgefordert. Wo bleibet nun der Ruhm des olios- “maniſchen Zepters? wo iſt die gute Kriegeszucht? wo ſpuͤret man den Eifer, “das Geſetz auszubreiten? wo ſtecken die Regierungskuͤnſte? Kann man “wol bey uns ſagen; das Reich werde erweitert? iſt es an dem, daß es hei- “ßet; wir haben mit unſern Feinden zu ſchaffen? koͤnnen wir uns wol ruͤh- “men; der Eifer unſerer bisher unuͤberwindlichen Kriegsleute ſey unterhalten “worden? Wahrhaftig, nach dieſer Art haben unſere ruhmwuͤrdigen Vor- “fahrer weder ihren Thron aufgerichtet, noch die Grenzen des Reiches erwei- “tert. Wenn man dieſe Dinge gehoͤriger maßen erwaͤget: ſo laſſet meinen “Vater ſelbſt urtheilen, ob diejenigen, die entweder durch ihre Einwilligung ⁵⁵ , “Zulaſſung oder Nachlaͤſſigkeit, Urſache an dieſer uͤbeln Verwaltung geweſen “ſind, ohne Strafe bleiben koͤnnen? Denn, wenn man dieſen Verderbniſſen “kein ſchleuniges Huͤlfsmittel entgegen ſetzet: ſo werden wir den herannahen- “den und faſt unvermeidlichen Untergang unſeres Reiches, unſerer eigenen “Traͤgheit, und nicht der Tapferkeit unſerer Feinde, zuſchreiben muͤſſen.„ 29. Als der Weßir wieder zu dem Sultane zuruͤck kommt, und demſel- ben ſeines Sohnes Antwort uͤberbringet: ſo ſoll Bajeßid darauf geſagt haben; “Ich ſehe nur allzudeutlich, daß meines Sohnes Vorſatz nicht iſt, ſeinen Va- “ter zu beſuchen, ſondern das Reich mit Recht oder Unrecht an ſich zu ziehen. “Daß ihm aber auch daſſelbe von dem Himmel beſtimmet iſt: davon hat mich “ein Traum ⁵⁶ in der verwichenen Nacht uͤberfuͤhret, da ich geſehen, daß meine “Krone loſe Sohn ſuchet hier einen Vorwand, ſeinen Vater vom Throne zu ſtoßen und ums Leben zu bringen. ⁵⁶ Traum] Die Tuͤrken ſind ſehr aber- glaͤubiſch bey den Traͤumen, und glauben, daß die reine Seele eines Muͤſuͤlmans einige Dinge im Traume vorherſehe und wegen der- ſelben gewarnet werde. Sie haben ein Buch, Wakaͤaͤ Name (Traumbuch) oder Ausleger der Traͤume genennet, in dem ſie ſich bey der- gleichen Faͤllen Raths erholen. Sie pflegen aber zu ſagen: Duſch gioͤrende degjuͤl duͤr, gjoͤruͤnde duͤr; das iſt, der Ausgang eines Traumes beruhet nicht auf dem, der ihn hat, ſondern auf dem, der ihn ausleget. Sobald daher iemand ſaget; ich habe dieſe Nacht ei- nen Traum gehabt: ſo rufet gleich die ganze Geſellſchaft; chaͤjr ola *! und ſie glauben da- bey, wenn gleich die Bedeutung des Traumes etwas Boͤſes anzeigen ſollte: ſo ſey es doch dadurch nunmehr abgewendet. Bajeßid tritt Selim das Reich ab, und ziehet nach Dymotika zu. * es ſey gut, oder bedeute etwas Gutes!

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Zitationshilfe: Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cantemir_geschichte_1745/293>, abgerufen am 22.11.2024.