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Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745.

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Osmanische Geschichte
itzo merket, daß der gemeine Mann nach zehenjährigem Frieden auf neue Dinge
H. 916.


J. C. 1510.
begierig ist: fänget im Jahre 916 an, seine lange vorher ausgedachte Ketzerey
[Spaltenumbruch]
da die Wahrheit der Lehre mit der Wohlfahrt
des gemeinen Wesens streite, sey es am na-
türlichsten, seine Zuflucht zu Wunderwerken
zu nehmen; er habe auch so viel Vertrauen
zu Gott und dem Propheten, daß ihm ein
Wunder werde gewähret werden, um seine
Lehre in den Gemüthern der Unwissenden zu
errichten und zu bestätigen. Hierauf wurden
die gelehrtesten Ausleger des Kurons aus dem
ganzen Königreiche zusammenberufen, und
Sofi überreichte denselben ein Buch mit wei-
ßen Blättern und noch unbeschrieben, und
sagte dabey: "... Wenn ihr noch
"einen Zweifel an meiner Lehre habt; so
"wird Gott die Wahrheit durch ein Wunder
"bekräftigen, dergleichen man vor diesem
"noch niemals gehöret oder gesehen hat."
Dieses unbeschriebene Buch legte er in einen
alten hohlen Baum, nebst noch einem andern
mit dem Kuron beschrieben, wie derselbe bis-
her üblich gewesen war. Die Oeffnung der
Höhle, dadurch er die Bücher hinein steckte,
wurde mit eisernen Ringen verschlossen, und
drey Siegel darauf gedrücket, von denen der
König eines, und die Gegenpartey die zwey
andern verwahrete. Unter diesem Baume
verrichtete er alle Tage öffentliche Gebeter,
und am vierzehenten Tage begehrete er, daß
man die Siegel aufbrechen und die Bücher
herausnehmen sollte. Hier wurde nun das
unbeschriebene Buch vom Anfange bis zum
Ende voll geschrieben gefunden, und kam
aufs genaueste mit der Abschrift überein, die
er selbst verbessert hatte: die alte Abschrift
aber war allenthalben in der Schrift ausgelö-
schet, und nur bloß der Rand unberühret ge-
lassen. Ueber diesem Anblicke rief die ganze
Versammlung aus: Allah, Allah! Gott,
[Spaltenumbruch]
Gott! Sie nahmen sogleich die Lehre, wie
sie ihnen Sofi vorgetragen hatte, als wahr
und ungezweifelt an, suchten die alten Ab-
schriften von dem Kurone allenthalben zusam-
men, und warfen sie ins Feuer; dagegen sie
sich von diesem Wunderbuche neue Abschriften
machten. Ueber dieses veränderten sie auch
die Schrift. Denn da die bisherigen alten
Abschriften des Kurons in der Schrift Näschi
genennet (die die Türken noch auf den heutigen
Tag beybehalten) geschrieben waren: so ver-
ordnete Sofi, daß von diesem Tage an alle
Exemplare des Kurons in der Schrift Tälik
sollten ausgefertiget werden, damit man die
echten Abschriften von den unechten unter-
scheiden könnte. Auf diese Weise wird die
Geschichte von den Persern erzählet: da hin-
gegen die Türken derselben einen ganz andern
Schwung geben. Nämlich sie sagen: Schej-
tan Kuli habe während der Zeit, da er Lehrer
bey den Prinzen des Königes Ismäils in
Persien gewesen, den jüngsten Prinzen (den
Namen desselben habe ich vergessen: denn ich
bin genöthiget, mich bloß auf mein Gedächt-
niß verschiedener Dinge wegen zu verlassen,
die von mir aus dem Munde gelehrter Tür-
ken und andern Urkunden abgeschrieben, nach-
her aber von dem neidischen Schicksale mir
entrissen worden sind) öfters in einen Wald
geführet und ihm einen Ahornbaum gezeiget,
mit dem Befehle: wann einmal sein Herr
Vater ihn heißen sollte, einen Baum zu be-
nennen: so sollte er diesen angeben. In
diesen Baum, fahren sie fort, hatte derselbe
ein Jahr vorher das Buch des Kurons gele-
get, wie es von ihm selbst war geändert wor-
den, in einer bisher unbekannten, iedoch zier-
lichen Schrift geschrieben, nebst noch einem

in

Osmaniſche Geſchichte
itzo merket, daß der gemeine Mann nach zehenjaͤhrigem Frieden auf neue Dinge
H. 916.


J. C. 1510.
begierig iſt: faͤnget im Jahre 916 an, ſeine lange vorher ausgedachte Ketzerey
[Spaltenumbruch]
da die Wahrheit der Lehre mit der Wohlfahrt
des gemeinen Weſens ſtreite, ſey es am na-
tuͤrlichſten, ſeine Zuflucht zu Wunderwerken
zu nehmen; er habe auch ſo viel Vertrauen
zu Gott und dem Propheten, daß ihm ein
Wunder werde gewaͤhret werden, um ſeine
Lehre in den Gemuͤthern der Unwiſſenden zu
errichten und zu beſtaͤtigen. Hierauf wurden
die gelehrteſten Ausleger des Kurons aus dem
ganzen Koͤnigreiche zuſammenberufen, und
Sofi uͤberreichte denſelben ein Buch mit wei-
ßen Blaͤttern und noch unbeſchrieben, und
ſagte dabey: “... Wenn ihr noch
“einen Zweifel an meiner Lehre habt; ſo
“wird Gott die Wahrheit durch ein Wunder
“bekraͤftigen, dergleichen man vor dieſem
“noch niemals gehoͤret oder geſehen hat.„
Dieſes unbeſchriebene Buch legte er in einen
alten hohlen Baum, nebſt noch einem andern
mit dem Kuron beſchrieben, wie derſelbe bis-
her uͤblich geweſen war. Die Oeffnung der
Hoͤhle, dadurch er die Buͤcher hinein ſteckte,
wurde mit eiſernen Ringen verſchloſſen, und
drey Siegel darauf gedruͤcket, von denen der
Koͤnig eines, und die Gegenpartey die zwey
andern verwahrete. Unter dieſem Baume
verrichtete er alle Tage oͤffentliche Gebeter,
und am vierzehenten Tage begehrete er, daß
man die Siegel aufbrechen und die Buͤcher
herausnehmen ſollte. Hier wurde nun das
unbeſchriebene Buch vom Anfange bis zum
Ende voll geſchrieben gefunden, und kam
aufs genaueſte mit der Abſchrift uͤberein, die
er ſelbſt verbeſſert hatte: die alte Abſchrift
aber war allenthalben in der Schrift ausgeloͤ-
ſchet, und nur bloß der Rand unberuͤhret ge-
laſſen. Ueber dieſem Anblicke rief die ganze
Verſammlung aus: Allah, Allah! Gott,
[Spaltenumbruch]
Gott! Sie nahmen ſogleich die Lehre, wie
ſie ihnen Sofi vorgetragen hatte, als wahr
und ungezweifelt an, ſuchten die alten Ab-
ſchriften von dem Kurone allenthalben zuſam-
men, und warfen ſie ins Feuer; dagegen ſie
ſich von dieſem Wunderbuche neue Abſchriften
machten. Ueber dieſes veraͤnderten ſie auch
die Schrift. Denn da die bisherigen alten
Abſchriften des Kurons in der Schrift Naͤschi
genennet (die die Tuͤrken noch auf den heutigen
Tag beybehalten) geſchrieben waren: ſo ver-
ordnete Sofi, daß von dieſem Tage an alle
Exemplare des Kurons in der Schrift Taͤlik
ſollten ausgefertiget werden, damit man die
echten Abſchriften von den unechten unter-
ſcheiden koͤnnte. Auf dieſe Weiſe wird die
Geſchichte von den Perſern erzaͤhlet: da hin-
gegen die Tuͤrken derſelben einen ganz andern
Schwung geben. Naͤmlich ſie ſagen: Schej-
tan Kuli habe waͤhrend der Zeit, da er Lehrer
bey den Prinzen des Koͤniges Ismaͤils in
Perſien geweſen, den juͤngſten Prinzen (den
Namen deſſelben habe ich vergeſſen: denn ich
bin genoͤthiget, mich bloß auf mein Gedaͤcht-
niß verſchiedener Dinge wegen zu verlaſſen,
die von mir aus dem Munde gelehrter Tuͤr-
ken und andern Urkunden abgeſchrieben, nach-
her aber von dem neidiſchen Schickſale mir
entriſſen worden ſind) oͤfters in einen Wald
gefuͤhret und ihm einen Ahornbaum gezeiget,
mit dem Befehle: wann einmal ſein Herr
Vater ihn heißen ſollte, einen Baum zu be-
nennen: ſo ſollte er dieſen angeben. In
dieſen Baum, fahren ſie fort, hatte derſelbe
ein Jahr vorher das Buch des Kurons gele-
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[198/0284] Osmaniſche Geſchichte itzo merket, daß der gemeine Mann nach zehenjaͤhrigem Frieden auf neue Dinge begierig iſt: faͤnget im Jahre 916 an, ſeine lange vorher ausgedachte Ketzerey in da die Wahrheit der Lehre mit der Wohlfahrt des gemeinen Weſens ſtreite, ſey es am na- tuͤrlichſten, ſeine Zuflucht zu Wunderwerken zu nehmen; er habe auch ſo viel Vertrauen zu Gott und dem Propheten, daß ihm ein Wunder werde gewaͤhret werden, um ſeine Lehre in den Gemuͤthern der Unwiſſenden zu errichten und zu beſtaͤtigen. Hierauf wurden die gelehrteſten Ausleger des Kurons aus dem ganzen Koͤnigreiche zuſammenberufen, und Sofi uͤberreichte denſelben ein Buch mit wei- ßen Blaͤttern und noch unbeſchrieben, und ſagte dabey: “... Wenn ihr noch “einen Zweifel an meiner Lehre habt; ſo “wird Gott die Wahrheit durch ein Wunder “bekraͤftigen, dergleichen man vor dieſem “noch niemals gehoͤret oder geſehen hat.„ Dieſes unbeſchriebene Buch legte er in einen alten hohlen Baum, nebſt noch einem andern mit dem Kuron beſchrieben, wie derſelbe bis- her uͤblich geweſen war. Die Oeffnung der Hoͤhle, dadurch er die Buͤcher hinein ſteckte, wurde mit eiſernen Ringen verſchloſſen, und drey Siegel darauf gedruͤcket, von denen der Koͤnig eines, und die Gegenpartey die zwey andern verwahrete. Unter dieſem Baume verrichtete er alle Tage oͤffentliche Gebeter, und am vierzehenten Tage begehrete er, daß man die Siegel aufbrechen und die Buͤcher herausnehmen ſollte. Hier wurde nun das unbeſchriebene Buch vom Anfange bis zum Ende voll geſchrieben gefunden, und kam aufs genaueſte mit der Abſchrift uͤberein, die er ſelbſt verbeſſert hatte: die alte Abſchrift aber war allenthalben in der Schrift ausgeloͤ- ſchet, und nur bloß der Rand unberuͤhret ge- laſſen. Ueber dieſem Anblicke rief die ganze Verſammlung aus: Allah, Allah! Gott, Gott! Sie nahmen ſogleich die Lehre, wie ſie ihnen Sofi vorgetragen hatte, als wahr und ungezweifelt an, ſuchten die alten Ab- ſchriften von dem Kurone allenthalben zuſam- men, und warfen ſie ins Feuer; dagegen ſie ſich von dieſem Wunderbuche neue Abſchriften machten. Ueber dieſes veraͤnderten ſie auch die Schrift. Denn da die bisherigen alten Abſchriften des Kurons in der Schrift Naͤschi genennet (die die Tuͤrken noch auf den heutigen Tag beybehalten) geſchrieben waren: ſo ver- ordnete Sofi, daß von dieſem Tage an alle Exemplare des Kurons in der Schrift Taͤlik ſollten ausgefertiget werden, damit man die echten Abſchriften von den unechten unter- ſcheiden koͤnnte. Auf dieſe Weiſe wird die Geſchichte von den Perſern erzaͤhlet: da hin- gegen die Tuͤrken derſelben einen ganz andern Schwung geben. Naͤmlich ſie ſagen: Schej- tan Kuli habe waͤhrend der Zeit, da er Lehrer bey den Prinzen des Koͤniges Ismaͤils in Perſien geweſen, den juͤngſten Prinzen (den Namen deſſelben habe ich vergeſſen: denn ich bin genoͤthiget, mich bloß auf mein Gedaͤcht- niß verſchiedener Dinge wegen zu verlaſſen, die von mir aus dem Munde gelehrter Tuͤr- ken und andern Urkunden abgeſchrieben, nach- her aber von dem neidiſchen Schickſale mir entriſſen worden ſind) oͤfters in einen Wald gefuͤhret und ihm einen Ahornbaum gezeiget, mit dem Befehle: wann einmal ſein Herr Vater ihn heißen ſollte, einen Baum zu be- nennen: ſo ſollte er dieſen angeben. In dieſen Baum, fahren ſie fort, hatte derſelbe ein Jahr vorher das Buch des Kurons gele- get, wie es von ihm ſelbſt war geaͤndert wor- den, in einer bisher unbekannten, iedoch zier- lichen Schrift geſchrieben, nebſt noch einem andern, H. 916. J. C. 1510.

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Zitationshilfe: Dimitrie [Moldau, Woiwode], (Cantemir, Dimitrie): Geschichte des osmanischen Reichs nach seinem Anwachse und Abnehmen. Hamburg, 1745, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/cantemir_geschichte_1745/284>, abgerufen am 22.11.2024.