Schaam, wie vernichtet, oder, wenn er sich er- mannet, und nun glaubt, sich bis zu einer be- scheidnen Dreistigkeit hinaufgearbeitet zu haben, verfält er in Unverschämtheit, und wird abge- schmakt; er beleidigt, indem er zu gefallen dachte. Trage also immer, so viel du kanst, dieses air de douceur an dir, welches allemahl einen vortheil- haften Eindruck macht, wofern es nicht in ein schales Lächeln, oder in ein höhnisches Grinzen ausartet.
(Die Menschen werden mehr durch den Schein beherscht, als durch die Wirklichkeit. Es ist daher nicht genug, sanfte, duldsame und milde Gesinnungen im Herzen zu haben; man muß das innerliche Dasein derselben auch durch sein Aeusser- liches an den Tag zu legen suchen. Wenige Leute haben Scharfsichtigkeit genug, mehr als das Aeusserliche zu entdekken, noch Aufmerksamkeit genug, mehr zu beobachten, noch Sorgfalt genug, mehr zu untersuchen. Ihre Begriffe nehmen sie von der Oberfläche; tiefer dringen sie nicht. Sie loben den, als den sanftesten, gutartigsten Men- schen, der das einnehmendste äusserliche Bezeigen
hat,
Schaam, wie vernichtet, oder, wenn er ſich er- mannet, und nun glaubt, ſich bis zu einer be- ſcheidnen Dreiſtigkeit hinaufgearbeitet zu haben, verfaͤlt er in Unverſchaͤmtheit, und wird abge- ſchmakt; er beleidigt, indem er zu gefallen dachte. Trage alſo immer, ſo viel du kanſt, dieſes air de douceur an dir, welches allemahl einen vortheil- haften Eindruck macht, wofern es nicht in ein ſchales Laͤcheln, oder in ein hoͤhniſches Grinzen ausartet.
(Die Menſchen werden mehr durch den Schein beherſcht, als durch die Wirklichkeit. Es iſt daher nicht genug, ſanfte, duldſame und milde Geſinnungen im Herzen zu haben; man muß das innerliche Daſein derſelben auch durch ſein Aeuſſer- liches an den Tag zu legen ſuchen. Wenige Leute haben Scharfſichtigkeit genug, mehr als das Aeuſſerliche zu entdekken, noch Aufmerkſamkeit genug, mehr zu beobachten, noch Sorgfalt genug, mehr zu unterſuchen. Ihre Begriffe nehmen ſie von der Oberflaͤche; tiefer dringen ſie nicht. Sie loben den, als den ſanfteſten, gutartigſten Men- ſchen, der das einnehmendſte aͤuſſerliche Bezeigen
hat,
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0030"n="24"/>
Schaam, wie vernichtet, oder, wenn er ſich er-<lb/>
mannet, und nun glaubt, ſich bis zu einer be-<lb/>ſcheidnen Dreiſtigkeit hinaufgearbeitet zu haben,<lb/>
verfaͤlt er in Unverſchaͤmtheit, und wird abge-<lb/>ſchmakt; er beleidigt, indem er zu gefallen dachte.<lb/>
Trage alſo immer, ſo viel du kanſt, dieſes <hirendition="#aq">air de<lb/>
douceur</hi> an dir, welches allemahl einen vortheil-<lb/>
haften Eindruck macht, wofern es nicht in ein<lb/>ſchales Laͤcheln, oder in ein hoͤhniſches Grinzen<lb/>
ausartet.</p><lb/><p>(Die Menſchen werden mehr durch den Schein<lb/>
beherſcht, als durch die Wirklichkeit. Es iſt<lb/>
daher nicht genug, ſanfte, duldſame und milde<lb/>
Geſinnungen im Herzen zu haben; man muß das<lb/>
innerliche Daſein derſelben auch durch ſein Aeuſſer-<lb/>
liches an den Tag zu legen ſuchen. Wenige Leute<lb/>
haben Scharfſichtigkeit genug, mehr als das<lb/>
Aeuſſerliche zu entdekken, noch Aufmerkſamkeit<lb/>
genug, mehr zu beobachten, noch Sorgfalt genug,<lb/>
mehr zu unterſuchen. Ihre Begriffe nehmen ſie<lb/>
von der Oberflaͤche; tiefer dringen ſie nicht. Sie<lb/>
loben den, als den ſanfteſten, gutartigſten Men-<lb/>ſchen, der das einnehmendſte aͤuſſerliche Bezeigen<lb/><fwplace="bottom"type="catch">hat,</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[24/0030]
Schaam, wie vernichtet, oder, wenn er ſich er-
mannet, und nun glaubt, ſich bis zu einer be-
ſcheidnen Dreiſtigkeit hinaufgearbeitet zu haben,
verfaͤlt er in Unverſchaͤmtheit, und wird abge-
ſchmakt; er beleidigt, indem er zu gefallen dachte.
Trage alſo immer, ſo viel du kanſt, dieſes air de
douceur an dir, welches allemahl einen vortheil-
haften Eindruck macht, wofern es nicht in ein
ſchales Laͤcheln, oder in ein hoͤhniſches Grinzen
ausartet.
(Die Menſchen werden mehr durch den Schein
beherſcht, als durch die Wirklichkeit. Es iſt
daher nicht genug, ſanfte, duldſame und milde
Geſinnungen im Herzen zu haben; man muß das
innerliche Daſein derſelben auch durch ſein Aeuſſer-
liches an den Tag zu legen ſuchen. Wenige Leute
haben Scharfſichtigkeit genug, mehr als das
Aeuſſerliche zu entdekken, noch Aufmerkſamkeit
genug, mehr zu beobachten, noch Sorgfalt genug,
mehr zu unterſuchen. Ihre Begriffe nehmen ſie
von der Oberflaͤche; tiefer dringen ſie nicht. Sie
loben den, als den ſanfteſten, gutartigſten Men-
ſchen, der das einnehmendſte aͤuſſerliche Bezeigen
hat,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/30>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.