ein ander Wort für Beurtheilungskraft, obgleich nicht völlig einerlei mit ihr. Beurtheilungskraft wird nicht bei allen Gelegenheiten erfodert, aber Zurükhaltung überal.
Du mußt nie einen besondern Krakter affek- tiren oder annehmen; das würde dir nie anste- hen, sondern höchstwahrscheinlich dich zum Ge- lächter machen; überlaß es vielmehr deinem Betragen, deinen Tugenden, deinen Sitten und Manieren, deinen Karakter festzusezen. Zurük- haltung wird dich lehren, deine Aufmerksamkeit in einem vorzüglichen Grade auf deine Sitten zu wenden.
Ich wünschte noch ein bestimteres Wort für das was ich sagen wil. Ich meine damit eigent- lich das, was Cicero das decorum nent.
Indem wir über Worte sprechen, fält mir eine andere nöthige Regel ein. Studire deine Muttersprache mit mehrerem Fleiß, als die mei- sten Leute thun; erwirb dir die Fertigkeit, dich richtig und angenehm in derselben auszudrükken; denn nichts ist widriger, als einen Menschen aus
den
ein ander Wort fuͤr Beurtheilungskraft, obgleich nicht voͤllig einerlei mit ihr. Beurtheilungskraft wird nicht bei allen Gelegenheiten erfodert, aber Zuruͤkhaltung uͤberal.
Du mußt nie einen beſondern Krakter affek- tiren oder annehmen; das wuͤrde dir nie anſte- hen, ſondern hoͤchſtwahrſcheinlich dich zum Ge- laͤchter machen; uͤberlaß es vielmehr deinem Betragen, deinen Tugenden, deinen Sitten und Manieren, deinen Karakter feſtzuſezen. Zuruͤk- haltung wird dich lehren, deine Aufmerkſamkeit in einem vorzuͤglichen Grade auf deine Sitten zu wenden.
Ich wuͤnſchte noch ein beſtimteres Wort fuͤr das was ich ſagen wil. Ich meine damit eigent- lich das, was Cicero das decorum nent.
Indem wir uͤber Worte ſprechen, faͤlt mir eine andere noͤthige Regel ein. Studire deine Mutterſprache mit mehrerem Fleiß, als die mei- ſten Leute thun; erwirb dir die Fertigkeit, dich richtig und angenehm in derſelben auszudruͤkken; denn nichts iſt widriger, als einen Menſchen aus
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ein ander Wort fuͤr Beurtheilungskraft, obgleich
nicht voͤllig einerlei mit ihr. Beurtheilungskraft
wird nicht bei allen Gelegenheiten erfodert, aber
Zuruͤkhaltung uͤberal.
Du mußt nie einen beſondern Krakter affek-
tiren oder annehmen; das wuͤrde dir nie anſte-
hen, ſondern hoͤchſtwahrſcheinlich dich zum Ge-
laͤchter machen; uͤberlaß es vielmehr deinem
Betragen, deinen Tugenden, deinen Sitten und
Manieren, deinen Karakter feſtzuſezen. Zuruͤk-
haltung wird dich lehren, deine Aufmerkſamkeit
in einem vorzuͤglichen Grade auf deine Sitten
zu wenden.
Ich wuͤnſchte noch ein beſtimteres Wort fuͤr
das was ich ſagen wil. Ich meine damit eigent-
lich das, was Cicero das decorum nent.
Indem wir uͤber Worte ſprechen, faͤlt mir
eine andere noͤthige Regel ein. Studire deine
Mutterſprache mit mehrerem Fleiß, als die mei-
ſten Leute thun; erwirb dir die Fertigkeit, dich
richtig und angenehm in derſelben auszudruͤkken;
denn nichts iſt widriger, als einen Menſchen aus
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/106>, abgerufen am 27.07.2024.
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