nicht blos Früchte und Saaten reifen macht, son- dern auch die meisten Insekten erwekt. Die Menschen lieben nun einmahl nicht, auf grader Mittelstraße einherzugehen, und springen gemei- niglich, indem sie das Aeusserste auf der einen Seite vermeiden wollen, zu dem Aeussersten auf der ander Seite hinüber. Daher hat man Un- glauben und Aberglauben, Philosophie und Schwärmerei, wie Licht und Schatten im Ge- mählde, sich immer wechselseitig heben und beför- dern gesehn. -- Aber es ist Zeit, daß ich diese verlasse, um dich mit Andern bekant zu machen, vor denen du dich gleichfals hüten mußt.
Es gibt nemlich viertens eine besondere Art theils wirklicher, theils scheinbarer mo- ralischer Schwärmer, die du ebenfals nicht zu deinen Busenfreunden wählen, sondern in derjenigen Entfernung von dir halten solst, in der das wirkliche oder gemahlte Feuer ihrer ein- seitigen Temperamentstugend, oder ihrer Phari- säerrechtschaffenheit dich nicht brennen oder blen- den kan. Laß mich sie erst ein wenig deutlicher beschreiben.
Ich
nicht blos Fruͤchte und Saaten reifen macht, ſon- dern auch die meiſten Inſekten erwekt. Die Menſchen lieben nun einmahl nicht, auf grader Mittelſtraße einherzugehen, und ſpringen gemei- niglich, indem ſie das Aeuſſerſte auf der einen Seite vermeiden wollen, zu dem Aeuſſerſten auf der ander Seite hinuͤber. Daher hat man Un- glauben und Aberglauben, Philoſophie und Schwaͤrmerei, wie Licht und Schatten im Ge- maͤhlde, ſich immer wechſelſeitig heben und befoͤr- dern geſehn. — Aber es iſt Zeit, daß ich dieſe verlaſſe, um dich mit Andern bekant zu machen, vor denen du dich gleichfals huͤten mußt.
Es gibt nemlich viertens eine beſondere Art theils wirklicher, theils ſcheinbarer mo- raliſcher Schwaͤrmer, die du ebenfals nicht zu deinen Buſenfreunden waͤhlen, ſondern in derjenigen Entfernung von dir halten ſolſt, in der das wirkliche oder gemahlte Feuer ihrer ein- ſeitigen Temperamentstugend, oder ihrer Phari- ſaͤerrechtſchaffenheit dich nicht brennen oder blen- den kan. Laß mich ſie erſt ein wenig deutlicher beſchreiben.
Ich
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0228"n="198"/>
nicht blos Fruͤchte und Saaten reifen macht, ſon-<lb/>
dern auch die meiſten Inſekten erwekt. Die<lb/>
Menſchen lieben nun einmahl nicht, auf grader<lb/>
Mittelſtraße einherzugehen, und ſpringen gemei-<lb/>
niglich, indem ſie das Aeuſſerſte auf der einen<lb/>
Seite vermeiden wollen, zu dem Aeuſſerſten auf<lb/>
der ander Seite hinuͤber. Daher hat man Un-<lb/>
glauben und Aberglauben, Philoſophie und<lb/>
Schwaͤrmerei, wie Licht und Schatten im Ge-<lb/>
maͤhlde, ſich immer wechſelſeitig heben und befoͤr-<lb/>
dern geſehn. — Aber es iſt Zeit, daß ich dieſe<lb/>
verlaſſe, um dich mit Andern bekant zu machen,<lb/>
vor denen du dich gleichfals huͤten mußt.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Es gibt nemlich viertens eine beſondere Art<lb/><hirendition="#fr">theils wirklicher, theils ſcheinbarer mo-<lb/>
raliſcher Schwaͤrmer</hi>, die du ebenfals<lb/>
nicht zu deinen Buſenfreunden waͤhlen, ſondern<lb/>
in derjenigen Entfernung von dir halten ſolſt, in<lb/>
der das wirkliche oder gemahlte Feuer ihrer ein-<lb/>ſeitigen Temperamentstugend, oder ihrer Phari-<lb/>ſaͤerrechtſchaffenheit dich nicht brennen oder blen-<lb/>
den kan. Laß mich ſie erſt ein wenig deutlicher<lb/>
beſchreiben.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Ich</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[198/0228]
nicht blos Fruͤchte und Saaten reifen macht, ſon-
dern auch die meiſten Inſekten erwekt. Die
Menſchen lieben nun einmahl nicht, auf grader
Mittelſtraße einherzugehen, und ſpringen gemei-
niglich, indem ſie das Aeuſſerſte auf der einen
Seite vermeiden wollen, zu dem Aeuſſerſten auf
der ander Seite hinuͤber. Daher hat man Un-
glauben und Aberglauben, Philoſophie und
Schwaͤrmerei, wie Licht und Schatten im Ge-
maͤhlde, ſich immer wechſelſeitig heben und befoͤr-
dern geſehn. — Aber es iſt Zeit, daß ich dieſe
verlaſſe, um dich mit Andern bekant zu machen,
vor denen du dich gleichfals huͤten mußt.
Es gibt nemlich viertens eine beſondere Art
theils wirklicher, theils ſcheinbarer mo-
raliſcher Schwaͤrmer, die du ebenfals
nicht zu deinen Buſenfreunden waͤhlen, ſondern
in derjenigen Entfernung von dir halten ſolſt, in
der das wirkliche oder gemahlte Feuer ihrer ein-
ſeitigen Temperamentstugend, oder ihrer Phari-
ſaͤerrechtſchaffenheit dich nicht brennen oder blen-
den kan. Laß mich ſie erſt ein wenig deutlicher
beſchreiben.
Ich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/228>, abgerufen am 20.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.