tappen, am wenigsten, wenn es merkt, daß der Späher sich in Positur stelt, um es durchzuschauen: aber laß dich dadurch nicht abschrekken. Gegen eine fortgesezte Aufmerksamkeit auf Blikke, Mie- nen, Gebehrden, Gang, Stellung, Kleidung, Stimme, Reden und Handlungen, vornehmlich aber gegen eine sorgfältige Vergleichung aller dieser Karakteräusserungen unter einander, und zwar zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Um- ständen, hält auch die künstlichste Maske nicht lange Stich; sie fält, ehe man es sich versieht, und die entlarvte Sele steht in ihrer Blöße. Denn glüklicher Weise hat die Natur dafür gesorgt, daß jeder herschende Karakterzug in alle die äusserlichen Dinge, die ich jezt nante, kentliche Spuren seines Daseins eindrükken muß, welche zwar überklei- stert, aber nie ganz vertilgt werden können. Uebe dich frühzeitig, diese Naturschrift lesen zu lernen; aber sei nicht eher sicher, den rechten Sin heraus- gebracht zu haben, bis dir der Beobachtete selbst die Unterscheidungszeichen -- seine Handlungen mein' ich -- hinzugesezt hat. Ein einziges Komma mehr oder weniger, hier oder dorthin gesezt, macht
die
tappen, am wenigſten, wenn es merkt, daß der Spaͤher ſich in Poſitur ſtelt, um es durchzuſchauen: aber laß dich dadurch nicht abſchrekken. Gegen eine fortgeſezte Aufmerkſamkeit auf Blikke, Mie- nen, Gebehrden, Gang, Stellung, Kleidung, Stimme, Reden und Handlungen, vornehmlich aber gegen eine ſorgfaͤltige Vergleichung aller dieſer Karakteraͤuſſerungen unter einander, und zwar zu verſchiedenen Zeiten und unter verſchiedenen Um- ſtaͤnden, haͤlt auch die kuͤnſtlichſte Maske nicht lange Stich; ſie faͤlt, ehe man es ſich verſieht, und die entlarvte Sele ſteht in ihrer Bloͤße. Denn gluͤklicher Weiſe hat die Natur dafuͤr geſorgt, daß jeder herſchende Karakterzug in alle die aͤuſſerlichen Dinge, die ich jezt nante, kentliche Spuren ſeines Daſeins eindruͤkken muß, welche zwar uͤberklei- ſtert, aber nie ganz vertilgt werden koͤnnen. Uebe dich fruͤhzeitig, dieſe Naturſchrift leſen zu lernen; aber ſei nicht eher ſicher, den rechten Sin heraus- gebracht zu haben, bis dir der Beobachtete ſelbſt die Unterſcheidungszeichen — ſeine Handlungen mein’ ich — hinzugeſezt hat. Ein einziges Komma mehr oder weniger, hier oder dorthin geſezt, macht
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tappen, am wenigſten, wenn es merkt, daß der
Spaͤher ſich in Poſitur ſtelt, um es durchzuſchauen:
aber laß dich dadurch nicht abſchrekken. Gegen
eine fortgeſezte Aufmerkſamkeit auf Blikke, Mie-
nen, Gebehrden, Gang, Stellung, Kleidung,
Stimme, Reden und Handlungen, vornehmlich
aber gegen eine ſorgfaͤltige Vergleichung aller dieſer
Karakteraͤuſſerungen unter einander, und zwar zu
verſchiedenen Zeiten und unter verſchiedenen Um-
ſtaͤnden, haͤlt auch die kuͤnſtlichſte Maske nicht lange
Stich; ſie faͤlt, ehe man es ſich verſieht, und
die entlarvte Sele ſteht in ihrer Bloͤße. Denn
gluͤklicher Weiſe hat die Natur dafuͤr geſorgt, daß
jeder herſchende Karakterzug in alle die aͤuſſerlichen
Dinge, die ich jezt nante, kentliche Spuren ſeines
Daſeins eindruͤkken muß, welche zwar uͤberklei-
ſtert, aber nie ganz vertilgt werden koͤnnen. Uebe
dich fruͤhzeitig, dieſe Naturſchrift leſen zu lernen;
aber ſei nicht eher ſicher, den rechten Sin heraus-
gebracht zu haben, bis dir der Beobachtete ſelbſt
die Unterſcheidungszeichen — ſeine Handlungen
mein’ ich — hinzugeſezt hat. Ein einziges Komma
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Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/176>, abgerufen am 25.11.2024.
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