Das solte daher auch, wenn wir weise wären, der beständige Stufengang sein, auf welchem wir unsere Kinder zur Erkentniß und zur Liebe des Schöpfers, oder, welches einerlei ist, zur Religion anführten, daß wir erstlich ihnen die reinste, innigste, wärmste Liebe gegen uns, ihre Eltern und Freunde einzuflößen, dan ihr Men- schengefühl überhaupt zu stärken und zu veredeln suchten, dan ihren jungen Verstand und ihr of- nes Herz mit lebendiger Erkentniß und Empfin- dung der wundervollen Werke Gottes in der schö- nen Natur anfülten, und nur dan erst, wan ihre ganze Sele nach und nach dahin gebracht wäre, daß sie nichts als Menschenliebe und Naturfreude athmete, sie auf die Urquelle aller dieser Freuden -- auf Gott selbst -- verwiesen. Das würde allein der Gang sein, welcher der Natur unserer Sele angemessen wäre. Aber was thun wir? Wir kehren die natürliche Ordnung um, wollen den vergoldeten Knopf auf den Thurm sezen, bevor wir noch den Grundstein zu dem Thurme selbst gelegt haben -- ohne Allegorie, wir reden unsern Kindern von Gott vor, ehe sie noch ein-
mahl
Das ſolte daher auch, wenn wir weiſe waͤren, der beſtaͤndige Stufengang ſein, auf welchem wir unſere Kinder zur Erkentniß und zur Liebe des Schoͤpfers, oder, welches einerlei iſt, zur Religion anfuͤhrten, daß wir erſtlich ihnen die reinſte, innigſte, waͤrmſte Liebe gegen uns, ihre Eltern und Freunde einzufloͤßen, dan ihr Men- ſchengefuͤhl uͤberhaupt zu ſtaͤrken und zu veredeln ſuchten, dan ihren jungen Verſtand und ihr of- nes Herz mit lebendiger Erkentniß und Empfin- dung der wundervollen Werke Gottes in der ſchoͤ- nen Natur anfuͤlten, und nur dan erſt, wan ihre ganze Sele nach und nach dahin gebracht waͤre, daß ſie nichts als Menſchenliebe und Naturfreude athmete, ſie auf die Urquelle aller dieſer Freuden — auf Gott ſelbſt — verwieſen. Das wuͤrde allein der Gang ſein, welcher der Natur unſerer Sele angemeſſen waͤre. Aber was thun wir? Wir kehren die natuͤrliche Ordnung um, wollen den vergoldeten Knopf auf den Thurm ſezen, bevor wir noch den Grundſtein zu dem Thurme ſelbſt gelegt haben — ohne Allegorie, wir reden unſern Kindern von Gott vor, ehe ſie noch ein-
mahl
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0109"n="79"/><p>Das ſolte daher auch, wenn wir weiſe waͤren,<lb/>
der beſtaͤndige Stufengang ſein, auf welchem<lb/>
wir unſere Kinder zur Erkentniß und zur Liebe<lb/>
des Schoͤpfers, oder, welches einerlei iſt, zur<lb/>
Religion anfuͤhrten, daß wir erſtlich ihnen die<lb/>
reinſte, innigſte, waͤrmſte Liebe gegen uns, ihre<lb/>
Eltern und Freunde einzufloͤßen, dan ihr Men-<lb/>ſchengefuͤhl uͤberhaupt zu ſtaͤrken und zu veredeln<lb/>ſuchten, dan ihren jungen Verſtand und ihr of-<lb/>
nes Herz mit lebendiger Erkentniß und Empfin-<lb/>
dung der wundervollen Werke Gottes in der ſchoͤ-<lb/>
nen Natur anfuͤlten, und nur dan erſt, wan ihre<lb/>
ganze Sele nach und nach dahin gebracht waͤre,<lb/>
daß ſie nichts als Menſchenliebe und Naturfreude<lb/>
athmete, ſie auf die Urquelle aller dieſer Freuden<lb/>— auf <hirendition="#fr">Gott</hi>ſelbſt — verwieſen. Das wuͤrde<lb/>
allein der Gang ſein, welcher der Natur unſerer<lb/>
Sele angemeſſen waͤre. Aber was thun wir?<lb/>
Wir kehren die natuͤrliche Ordnung um, wollen<lb/>
den vergoldeten Knopf auf den Thurm ſezen,<lb/>
bevor wir noch den Grundſtein zu dem Thurme<lb/>ſelbſt gelegt haben — ohne Allegorie, wir reden<lb/>
unſern Kindern von Gott vor, ehe ſie noch ein-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">mahl</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[79/0109]
Das ſolte daher auch, wenn wir weiſe waͤren,
der beſtaͤndige Stufengang ſein, auf welchem
wir unſere Kinder zur Erkentniß und zur Liebe
des Schoͤpfers, oder, welches einerlei iſt, zur
Religion anfuͤhrten, daß wir erſtlich ihnen die
reinſte, innigſte, waͤrmſte Liebe gegen uns, ihre
Eltern und Freunde einzufloͤßen, dan ihr Men-
ſchengefuͤhl uͤberhaupt zu ſtaͤrken und zu veredeln
ſuchten, dan ihren jungen Verſtand und ihr of-
nes Herz mit lebendiger Erkentniß und Empfin-
dung der wundervollen Werke Gottes in der ſchoͤ-
nen Natur anfuͤlten, und nur dan erſt, wan ihre
ganze Sele nach und nach dahin gebracht waͤre,
daß ſie nichts als Menſchenliebe und Naturfreude
athmete, ſie auf die Urquelle aller dieſer Freuden
— auf Gott ſelbſt — verwieſen. Das wuͤrde
allein der Gang ſein, welcher der Natur unſerer
Sele angemeſſen waͤre. Aber was thun wir?
Wir kehren die natuͤrliche Ordnung um, wollen
den vergoldeten Knopf auf den Thurm ſezen,
bevor wir noch den Grundſtein zu dem Thurme
ſelbſt gelegt haben — ohne Allegorie, wir reden
unſern Kindern von Gott vor, ehe ſie noch ein-
mahl
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 1. Hamburg, 1783, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron01_1783/109>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.