Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar Sie ist sich selbst noch nicht bewußt dessen, was sie kleidet, Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Ge- 1 Dessenungeachtet können und werden an ihnen Geschmack und Eigenschaft sich immer verjüngen und erneuern. - 2 "Tradition"
ist die nach dem Leben abgenommene Gipsmaske, die - durch den Lauf vieler Jahre und die Hände ungezählter Handwerker gegangen - schließlich ihre Ähnlichkeit mit dem Original nur mehr erraten läßt. Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar Sie ist sich selbst noch nicht bewußt dessen, was sie kleidet, Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Ge- 1 Dessenungeachtet können und werden an ihnen Geschmack und Eigenschaft sich immer verjüngen und erneuern. – 2 „Tradition“
ist die nach dem Leben abgenommene Gipsmaske, die – durch den Lauf vieler Jahre und die Hände ungezählter Handwerker gegangen – schließlich ihre Ähnlichkeit mit dem Original nur mehr erraten läßt. <TEI> <text> <body> <div> <pb facs="#f0007" n="7"/> <p>Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und<lb/> reife Künste; ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher<lb/> geworden; sie haben durch Jahrtausende den Weg gefunden<lb/> und beschreiben, wie ein Planet, regelmäßig ihren Kreis. <note place="foot" n="1"><p>Dessenungeachtet können und werden an ihnen Geschmack und<lb/> Eigenschaft sich immer verjüngen und erneuern. –</p><lb/></note> </p><lb/> <p>Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar<lb/> gehen gelernt hat, aber noch geführt werden muß. Es ist<lb/> eine jungfräuliche Kunst, die noch nichts erlebt und gelitten<lb/> hat.</p><lb/> <p>Sie ist sich selbst noch nicht bewußt dessen, was sie kleidet,<lb/> der Vorzüge, die sie besitzt, und der Fähigkeiten, die in ihr<lb/> schlummern: wiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel<lb/> Schönes geben kann, schon viele erfreuen konnte und dessen<lb/> Gaben allgemein für völlig ausgereift gehalten werden.</p><lb/> <p>Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische<lb/> Musik, ist kaum vierhundert Jahre alt, sie lebt im Zustande<lb/> der Entwicklung; vielleicht im allerersten Stadium einer<lb/> noch unabsehbaren Entwicklung, und wir sprechen von Klas-<lb/> sikern und geheiligten Traditionen! <note place="foot" n="2"> „Tradition“<lb/> ist die nach dem Leben abgenommene Gipsmaske, die – durch den<lb/> Lauf vieler Jahre und die Hände ungezählter Handwerker gegangen –<lb/> schließlich ihre Ähnlichkeit mit dem Original nur mehr erraten läßt. </note> Spricht doch bereits<lb/> ein <persName>Cherubini</persName>, in seinem <bibl>Lehrbuch des Kontrapunktes</bibl>, von<lb/><quote>„den Alten“</quote>.</p><lb/> <p>Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Ge-<lb/> setze vorgeschrieben – – – wir wenden die Gesetze der<lb/> Erwachsenen auf ein Kind an, das die Verantwortung noch<lb/> nicht kennt!</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [7/0007]
Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und
reife Künste; ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher
geworden; sie haben durch Jahrtausende den Weg gefunden
und beschreiben, wie ein Planet, regelmäßig ihren Kreis. 1
Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar
gehen gelernt hat, aber noch geführt werden muß. Es ist
eine jungfräuliche Kunst, die noch nichts erlebt und gelitten
hat.
Sie ist sich selbst noch nicht bewußt dessen, was sie kleidet,
der Vorzüge, die sie besitzt, und der Fähigkeiten, die in ihr
schlummern: wiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel
Schönes geben kann, schon viele erfreuen konnte und dessen
Gaben allgemein für völlig ausgereift gehalten werden.
Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische
Musik, ist kaum vierhundert Jahre alt, sie lebt im Zustande
der Entwicklung; vielleicht im allerersten Stadium einer
noch unabsehbaren Entwicklung, und wir sprechen von Klas-
sikern und geheiligten Traditionen! 2 Spricht doch bereits
ein Cherubini, in seinem Lehrbuch des Kontrapunktes, von
„den Alten“.
Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Ge-
setze vorgeschrieben – – – wir wenden die Gesetze der
Erwachsenen auf ein Kind an, das die Verantwortung noch
nicht kennt!
1 Dessenungeachtet können und werden an ihnen Geschmack und
Eigenschaft sich immer verjüngen und erneuern. –
2 „Tradition“
ist die nach dem Leben abgenommene Gipsmaske, die – durch den
Lauf vieler Jahre und die Hände ungezählter Handwerker gegangen –
schließlich ihre Ähnlichkeit mit dem Original nur mehr erraten läßt.
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Zitationshilfe: | Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/7>, abgerufen am 18.12.2024. |