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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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Nein, nicht das kann ich meinen. Denn unser ganzes
Ton-, Tonart- und Tonartensystem ist in seiner Gesamt-
heit selbst nur der Teil eines Bruchteils eines zerlegten
Strahls jener Sonne "Musik" am Himmel der "ewigen
Harmonie".

So sehr die Anhänglichkeit an Gewohntes und Trägheit
in des Menschen Weise und Wesen liegen - so sehr sind
Energie und Opposition gegen Bestehendes die Eigenschaften
alles Lebendigen. Die Natur hat ihre Kniffe und überführt
die Menschen, die gegen Fortschritt und Änderungen wider-
spenstigen Menschen; die Natur schreitet beständig fort und
ändert unablässig, aber in so gleichmäßiger und unwahr-
nehmbarer Bewegung, daß die Menschen nur Stillstand
sehen. Erst der weitere Rückblick zeigt ihnen das Über-
raschende, daß sie die Getäuschten waren.

Deshalb erregt der "Reformator" Ärgernis bei den
Menschen aller Zeiten, weil seine Änderungen zu unvermittelt
und vor allem, weil sie wahrnehmbar sind. Der Reformator
ist - im Vergleich zur Natur - undiplomatisch, und es ist
ganz folgerichtig, daß seine Änderungen erst dann Gültig-
keit erlangen, wenn die Zeit den eigenmächtig vollführten
Sprung wieder auf ihre feine unmerkliche Weise eingeholt
hat. Doch gibt es Fälle, wo der Reformator mit der Zeit
gleichen Schritt ging, indessen die übrigen zurückblieben.
Und da muß man sie zwingen und dazu peitschen, den Sprung
über die versäumte Strecke zu springen. Ich glaube, daß die
Dur- und Moll-Tonart und ihr Transpositionsverhältnis,
daß das "Zwölfhalbtonsystem" einen solchen Fall von Zurück-
gebliebenheit darstellen.

Nein, nicht das kann ich meinen. Denn unser ganzes
Ton-, Tonart- und Tonartensystem ist in seiner Gesamt-
heit selbst nur der Teil eines Bruchteils eines zerlegten
Strahls jener Sonne „Musik“ am Himmel der „ewigen
Harmonie“.

So sehr die Anhänglichkeit an Gewohntes und Trägheit
in des Menschen Weise und Wesen liegen – so sehr sind
Energie und Opposition gegen Bestehendes die Eigenschaften
alles Lebendigen. Die Natur hat ihre Kniffe und überführt
die Menschen, die gegen Fortschritt und Änderungen wider-
spenstigen Menschen; die Natur schreitet beständig fort und
ändert unablässig, aber in so gleichmäßiger und unwahr-
nehmbarer Bewegung, daß die Menschen nur Stillstand
sehen. Erst der weitere Rückblick zeigt ihnen das Über-
raschende, daß sie die Getäuschten waren.

Deshalb erregt der „Reformator“ Ärgernis bei den
Menschen aller Zeiten, weil seine Änderungen zu unvermittelt
und vor allem, weil sie wahrnehmbar sind. Der Reformator
ist – im Vergleich zur Natur – undiplomatisch, und es ist
ganz folgerichtig, daß seine Änderungen erst dann Gültig-
keit erlangen, wenn die Zeit den eigenmächtig vollführten
Sprung wieder auf ihre feine unmerkliche Weise eingeholt
hat. Doch gibt es Fälle, wo der Reformator mit der Zeit
gleichen Schritt ging, indessen die übrigen zurückblieben.
Und da muß man sie zwingen und dazu peitschen, den Sprung
über die versäumte Strecke zu springen. Ich glaube, daß die
Dur- und Moll-Tonart und ihr Transpositionsverhältnis,
daß das „Zwölfhalbtonsystem“ einen solchen Fall von Zurück-
gebliebenheit darstellen.

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[40/0040] Nein, nicht das kann ich meinen. Denn unser ganzes Ton-, Tonart- und Tonartensystem ist in seiner Gesamt- heit selbst nur der Teil eines Bruchteils eines zerlegten Strahls jener Sonne „Musik“ am Himmel der „ewigen Harmonie“. So sehr die Anhänglichkeit an Gewohntes und Trägheit in des Menschen Weise und Wesen liegen – so sehr sind Energie und Opposition gegen Bestehendes die Eigenschaften alles Lebendigen. Die Natur hat ihre Kniffe und überführt die Menschen, die gegen Fortschritt und Änderungen wider- spenstigen Menschen; die Natur schreitet beständig fort und ändert unablässig, aber in so gleichmäßiger und unwahr- nehmbarer Bewegung, daß die Menschen nur Stillstand sehen. Erst der weitere Rückblick zeigt ihnen das Über- raschende, daß sie die Getäuschten waren. Deshalb erregt der „Reformator“ Ärgernis bei den Menschen aller Zeiten, weil seine Änderungen zu unvermittelt und vor allem, weil sie wahrnehmbar sind. Der Reformator ist – im Vergleich zur Natur – undiplomatisch, und es ist ganz folgerichtig, daß seine Änderungen erst dann Gültig- keit erlangen, wenn die Zeit den eigenmächtig vollführten Sprung wieder auf ihre feine unmerkliche Weise eingeholt hat. Doch gibt es Fälle, wo der Reformator mit der Zeit gleichen Schritt ging, indessen die übrigen zurückblieben. Und da muß man sie zwingen und dazu peitschen, den Sprung über die versäumte Strecke zu springen. Ich glaube, daß die Dur- und Moll-Tonart und ihr Transpositionsverhältnis, daß das „Zwölfhalbtonsystem“ einen solchen Fall von Zurück- gebliebenheit darstellen.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/40>, abgerufen am 23.04.2024.