des göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegen- teil. Jeder Tag beginnt anders als der vorige und doch immer mit einer Morgenröte. - Große Künstler spielen ihre eigenen Werke immer wieder verschieden, gestalten sie im Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück - wie sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten - und immer nach den gegebenen Verhältnissen jener "ewigen Harmonie".
Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den Schöpfer auf dessen eigene Zeichen. So, wie es heute steht, behält der Gesetzgeber recht.
"Notation" ("Skription") bringt mich auf Transkription: gegenwärtig ein recht mißverstandener, fast schimpflicher Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit "Transkrip- tionen" erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige Kritik in mir hervorrief, veranlaßten mich zum Versuch, über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Original- gestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form- und Klang- mittel, für welche der Komponist sich entscheiden muß, bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen.
Es ist ähnlich wie mit dem Menschen. Nackt und mit noch unbestimmten Neigungen geboren, entschließt er sich oder wird er in einem gegebenen Augenblick zum Entschluß getrieben, eine Laufbahn zu wählen. Mag auch vom Ein- fall oder vom Menschen manches Originale, das unver- wüstlich ist, weiterbestehen: sie sind doch von dem Augen-
des göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegen- teil. Jeder Tag beginnt anders als der vorige und doch immer mit einer Morgenröte. – Große Künstler spielen ihre eigenen Werke immer wieder verschieden, gestalten sie im Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück – wie sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten – und immer nach den gegebenen Verhältnissen jener „ewigen Harmonie“.
Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den Schöpfer auf dessen eigene Zeichen. So, wie es heute steht, behält der Gesetzgeber recht.
„Notation“ („Skription“) bringt mich auf Transkription: gegenwärtig ein recht mißverstandener, fast schimpflicher Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit „Transkrip- tionen“ erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige Kritik in mir hervorrief, veranlaßten mich zum Versuch, über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Original- gestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form- und Klang- mittel, für welche der Komponist sich entscheiden muß, bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen.
Es ist ähnlich wie mit dem Menschen. Nackt und mit noch unbestimmten Neigungen geboren, entschließt er sich oder wird er in einem gegebenen Augenblick zum Entschluß getrieben, eine Laufbahn zu wählen. Mag auch vom Ein- fall oder vom Menschen manches Originale, das unver- wüstlich ist, weiterbestehen: sie sind doch von dem Augen-
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des göttlichen Kindes widersetzt sich; sie fordert das Gegen-
teil. Jeder Tag beginnt anders als der vorige und doch
immer mit einer Morgenröte. – Große Künstler spielen
ihre eigenen Werke immer wieder verschieden, gestalten sie
im Augenblicke um, beschleunigen und halten zurück – wie
sie es nicht in Zeichen umsetzen konnten – und immer nach
den gegebenen Verhältnissen jener „ewigen Harmonie“.
Da wird der Gesetzgeber unwillig und verweist den
Schöpfer auf dessen eigene Zeichen. So, wie es heute steht,
behält der Gesetzgeber recht.
„Notation“ („Skription“) bringt mich auf Transkription:
gegenwärtig ein recht mißverstandener, fast schimpflicher
Begriff. Die häufige Opposition, die ich mit „Transkrip-
tionen“ erregte, und die Opposition, die oft unvernünftige
Kritik in mir hervorrief, veranlaßten mich zum Versuch,
über diesen Punkt Klarheit zu gewinnen. Was ich endgültig
darüber denke, ist: Jede Notation ist schon Transkription
eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder
sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Original-
gestalt. Die Absicht, den Einfall aufzuschreiben, bedingt
schon die Wahl von Taktart und Tonart. Form- und Klang-
mittel, für welche der Komponist sich entscheiden muß,
bestimmen mehr und mehr den Weg und die Grenzen.
Es ist ähnlich wie mit dem Menschen. Nackt und mit
noch unbestimmten Neigungen geboren, entschließt er sich
oder wird er in einem gegebenen Augenblick zum Entschluß
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Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat
(2019-05-27T13:49:52Z)
Weitere Informationen:
Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.
Druckfehler: dokumentiert;
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Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert;
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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/22>, abgerufen am 16.07.2024.
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