bewußt das geben will, was in dem wirklichen Leben nicht zu finden ist. Der Zauberspiegel für die ernste Oper, der Lachspiegel für die heitere. Und lasset Tanz und Masken- spiel und Spuk mit eingeflochten sein, auf daß der Zuschauer der anmutigen Lüge auf jedem Schritt gewahr bleibe und nicht sich ihr hingebe wie einem Erlebnis.
So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt werden darf - soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel im gegebenen Augenblicke einbüßen -, so darf auch der Zuschauer, will er die theatralische Wirkung kosten, diese niemals für Wirklichkeit ansehen, soll nicht der künstlerische Genuß zur menschlichen Teilnahme herabsinken. Der Dar- steller "spiele" - er erlebe nicht. Der Zuschauer bleibe un- gläubig und dadurch ungehindert im geistigen Empfangen und Feinschmecken.
Auf solche Voraussetzungen gestützt, ließe sich eine Zukunft für die Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und stärkste Hindernis, fürchte ich, wird uns das Publikum selbst bereiten.
Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus kriminell veranlagt, und man kann vermuten, daß die meisten von der Bühne ein starkes menschliches Erlebnis wohl des- halb fordern, weil ein solches in ihren Durchschnittsexistenzen fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen der Mut zu solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht ver- langt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne die begleitenden Gefahren und die schlimmen Folgen, un- kompromittierend, und vor allem: unanstrengend. Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, daß,
bewußt das geben will, was in dem wirklichen Leben nicht zu finden ist. Der Zauberspiegel für die ernste Oper, der Lachspiegel für die heitere. Und lasset Tanz und Masken- spiel und Spuk mit eingeflochten sein, auf daß der Zuschauer der anmutigen Lüge auf jedem Schritt gewahr bleibe und nicht sich ihr hingebe wie einem Erlebnis.
So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt werden darf – soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel im gegebenen Augenblicke einbüßen –, so darf auch der Zuschauer, will er die theatralische Wirkung kosten, diese niemals für Wirklichkeit ansehen, soll nicht der künstlerische Genuß zur menschlichen Teilnahme herabsinken. Der Dar- steller „spiele“ – er erlebe nicht. Der Zuschauer bleibe un- gläubig und dadurch ungehindert im geistigen Empfangen und Feinschmecken.
Auf solche Voraussetzungen gestützt, ließe sich eine Zukunft für die Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und stärkste Hindernis, fürchte ich, wird uns das Publikum selbst bereiten.
Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus kriminell veranlagt, und man kann vermuten, daß die meisten von der Bühne ein starkes menschliches Erlebnis wohl des- halb fordern, weil ein solches in ihren Durchschnittsexistenzen fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen der Mut zu solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht ver- langt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne die begleitenden Gefahren und die schlimmen Folgen, un- kompromittierend, und vor allem: unanstrengend. Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, daß,
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bewußt das geben will, was in dem wirklichen Leben nicht
zu finden ist. Der Zauberspiegel für die ernste Oper, der
Lachspiegel für die heitere. Und lasset Tanz und Masken-
spiel und Spuk mit eingeflochten sein, auf daß der Zuschauer
der anmutigen Lüge auf jedem Schritt gewahr bleibe und
nicht sich ihr hingebe wie einem Erlebnis.
So wie der Künstler, wo er rühren soll, nicht selber gerührt
werden darf – soll er nicht die Herrschaft über seine Mittel
im gegebenen Augenblicke einbüßen –, so darf auch der
Zuschauer, will er die theatralische Wirkung kosten, diese
niemals für Wirklichkeit ansehen, soll nicht der künstlerische
Genuß zur menschlichen Teilnahme herabsinken. Der Dar-
steller „spiele“ – er erlebe nicht. Der Zuschauer bleibe un-
gläubig und dadurch ungehindert im geistigen Empfangen
und Feinschmecken.
Auf solche Voraussetzungen gestützt, ließe sich eine Zukunft
für die Oper sehr wohl erwarten. Aber das erste und stärkste
Hindernis, fürchte ich, wird uns das Publikum selbst bereiten.
Es ist, wie mich dünkt, angesichts des Theaters durchaus
kriminell veranlagt, und man kann vermuten, daß die meisten
von der Bühne ein starkes menschliches Erlebnis wohl des-
halb fordern, weil ein solches in ihren Durchschnittsexistenzen
fehlt; und wohl auch deswegen, weil ihnen der Mut zu
solchen Konflikten abgeht, nach welchen ihre Sehnsucht ver-
langt. Und die Bühne spendet ihnen diese Konflikte, ohne
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Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat
(2019-05-27T13:49:52Z)
Weitere Informationen:
Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.
Druckfehler: dokumentiert;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert;
langes s (ſ): als s transkribiert;
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Vollständigkeit: vollständig erfasst;
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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/19>, abgerufen am 26.07.2024.
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