Sodann wird der beständige Umgang mit Kranken oft lästig; denn eben weil sie krank sind, können die meisten nicht richtig urtheilen und schließen, sie erzählen weitschwei- fig, wollen Erklärungen haben, welche sie nicht verstehen können, widersetzen sich aus Grillen den besten Anordnun- gen des Arztes etc. Aber auch alle unerzogene Menschen jedes Alters, ermüden auf ähnliche Art die Geduld des Arztes, ohne daß diese Unarten gerade Würkungen einer eigentlichen Krankheit sind.
§ 473.
Ferner ist kein Stand so vielen falschen Urtheilen aus[-] gesetzt, als der des Arztes. Niemand kann sein Verfahren beurtheilen, als nur ein Arzt: aber in der Heilkunst wi[l]l jeder Dilettant seyn, jeder glaubt Kenntnisse zu besitzen, um den Arzt beurtheilen zu können. Aus Mangel an Aufk[l]ä- rung sieht man ihn bald für einen Gott an, dem die ganze Natur zu Gebote steht, bald für einen zu reichlich bezahlten Miethling; bald nimmt man Parthey gegen ihn, aus blin- der Verehrung des Alten, und bald aus eben so grundloser Vorliebe für das Neue. Man erfüllt die (§ 464 f.) angege- benen Pflichten gegen den Arzt nicht, und überdies sucht noch mancher leere Kopf durch Aufwärmung abgenutzter Spöttereyen gegen ihn, sich das Ansehen des Wichtigen und Einsichtsvollen zu geben *). -- Die Versuche, das Pub- likum in den Stand zu setzen, daß es den Arzt richtig beur- theilen kann, können zwar manches Gute bewürken, aber ihrem Zwecke nie vollkommen entsprechen **).
*)Les erreurs populaires sur la medecine, par d' Eharce. a Paris 783. 8.
Garn über Vorurtheile, Aberglauben, Unglanben, Leicht- gläubigkeit der meisten Menschen in der praktischen Arzney-
wissen-
Erſter Theil.
§ 472.
Sodann wird der beſtaͤndige Umgang mit Kranken oft laͤſtig; denn eben weil ſie krank ſind, koͤnnen die meiſten nicht richtig urtheilen und ſchließen, ſie erzaͤhlen weitſchwei- fig, wollen Erklaͤrungen haben, welche ſie nicht verſtehen koͤnnen, widerſetzen ſich aus Grillen den beſten Anordnun- gen des Arztes ꝛc. Aber auch alle unerzogene Menſchen jedes Alters, ermuͤden auf aͤhnliche Art die Geduld des Arztes, ohne daß dieſe Unarten gerade Wuͤrkungen einer eigentlichen Krankheit ſind.
§ 473.
Ferner iſt kein Stand ſo vielen falſchen Urtheilen aus[-] geſetzt, als der des Arztes. Niemand kann ſein Verfahren beurtheilen, als nur ein Arzt: aber in der Heilkunſt wi[l]l jeder Dilettant ſeyn, jeder glaubt Kenntniſſe zu beſitzen, um den Arzt beurtheilen zu koͤnnen. Aus Mangel an Aufk[l]aͤ- rung ſieht man ihn bald fuͤr einen Gott an, dem die ganze Natur zu Gebote ſteht, bald fuͤr einen zu reichlich bezahlten Miethling; bald nimmt man Parthey gegen ihn, aus blin- der Verehrung des Alten, und bald aus eben ſo grundloſer Vorliebe fuͤr das Neue. Man erfuͤllt die (§ 464 f.) angege- benen Pflichten gegen den Arzt nicht, und uͤberdies ſucht noch mancher leere Kopf durch Aufwaͤrmung abgenutzter Spoͤttereyen gegen ihn, ſich das Anſehen des Wichtigen und Einſichtsvollen zu geben *). — Die Verſuche, das Pub- likum in den Stand zu ſetzen, daß es den Arzt richtig beur- theilen kann, koͤnnen zwar manches Gute bewuͤrken, aber ihrem Zwecke nie vollkommen entſprechen **).
*)Les erreurs populaires sur la médecine, par d’ Eharce. à Paris 783. 8.
Garn uͤber Vorurtheile, Aberglauben, Unglanben, Leicht- glaͤubigkeit der meiſten Menſchen in der praktiſchen Arzney-
wiſſen-
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Erſter Theil.
§ 472.
Sodann wird der beſtaͤndige Umgang mit Kranken oft
laͤſtig; denn eben weil ſie krank ſind, koͤnnen die meiſten
nicht richtig urtheilen und ſchließen, ſie erzaͤhlen weitſchwei-
fig, wollen Erklaͤrungen haben, welche ſie nicht verſtehen
koͤnnen, widerſetzen ſich aus Grillen den beſten Anordnun-
gen des Arztes ꝛc. Aber auch alle unerzogene Menſchen jedes
Alters, ermuͤden auf aͤhnliche Art die Geduld des Arztes,
ohne daß dieſe Unarten gerade Wuͤrkungen einer eigentlichen
Krankheit ſind.
§ 473.
Ferner iſt kein Stand ſo vielen falſchen Urtheilen aus-
geſetzt, als der des Arztes. Niemand kann ſein Verfahren
beurtheilen, als nur ein Arzt: aber in der Heilkunſt will
jeder Dilettant ſeyn, jeder glaubt Kenntniſſe zu beſitzen, um
den Arzt beurtheilen zu koͤnnen. Aus Mangel an Aufklaͤ-
rung ſieht man ihn bald fuͤr einen Gott an, dem die ganze
Natur zu Gebote ſteht, bald fuͤr einen zu reichlich bezahlten
Miethling; bald nimmt man Parthey gegen ihn, aus blin-
der Verehrung des Alten, und bald aus eben ſo grundloſer
Vorliebe fuͤr das Neue. Man erfuͤllt die (§ 464 f.) angege-
benen Pflichten gegen den Arzt nicht, und uͤberdies ſucht
noch mancher leere Kopf durch Aufwaͤrmung abgenutzter
Spoͤttereyen gegen ihn, ſich das Anſehen des Wichtigen und
Einſichtsvollen zu geben *). — Die Verſuche, das Pub-
likum in den Stand zu ſetzen, daß es den Arzt richtig beur-
theilen kann, koͤnnen zwar manches Gute bewuͤrken, aber
ihrem Zwecke nie vollkommen entſprechen **).
*⁾ Les erreurs populaires sur la médecine, par d’ Eharce.
à Paris 783. 8.
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glaͤubigkeit der meiſten Menſchen in der praktiſchen Arzney-
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Burdach, Karl Friedrich: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig, 1800, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burdach_propaedeutik_1800/160>, abgerufen am 16.07.2024.
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