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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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4. Abschnitt.Mutter, alle kerngesund und (so viel bis jetzt zu sehen ist)
mit Talent und Neigung für Bildung und gute Sitten
begabt. Einen von den kleinern habe ich immer als meinen
Possenmacher (buffoncello) bei mir, wie denn die Kinder
vom dritten bis zum fünften Jahre geborene Buffonen sind;
die größern behandle ich schon als meine Gesellschaft, und
freue mich auch, da sie herrliche Stimmen haben, sie singen
und auf verschiedenen Instrumenten spielen zu hören; ja
ich selbst singe auch und habe jetzt eine bessere, hellere, tö-
nendere Stimme als je. Das sind die Freuden meines
Alters. Mein Leben ist also ein lebendiges und kein todtes,
und ich möchte mein Alter nicht tauschen gegen die Jugend
eines Solchen, der den Leidenschaften verfallen ist."

In der "Ermahnung", welche Cornaro viel später, in
seinem 95sten Jahre beifügte, rechnet er zu seinem Glück
unter andern auch, daß sein "Tractat" viele Proselyten ge-
wonnen habe. Er starb zu Padua 1565, mehr als hundert-
jährig.

Characteristik
von Völkern u.
Städten.
Neben der Characteristik der einzelnen Individuen ent-
steht auch eine Gabe des Urtheils und der Schilderung für
ganze Bevölkerungen. Während des Mittelalters hatten
sich im ganzen Abendlande Städte, Stämme und Völker
gegenseitig mit Spott- und Scherzworten verfolgt, welche
meistens einen wahren Kern in starker Verzerrung enthielten.
Von jeher aber thaten sich die Italiener im Bewußtsein
der geistigen Unterschiede ihrer Städte und Landschaften
besonders hervor; ihr Localpatriotismus, so groß oder größer
als bei irgend einem mittelalterlichen Volke, hatte frühe
schon eine literarische Seite und verband sich mit dem Be-
griff des Ruhmes; die Topographie entsteht als eine Paral-
lele der Biographie (S. 148). Während sich nun jede größere
Stadt in Prosa und Versen zu preisen anfing 1), traten

1) Dieß zum Theil schon sehr früh, in den lombardischen Städten schon
im XII. Jahrh. Vgl. Landulfus senior, Ricobaldus und (bei

4. Abſchnitt.Mutter, alle kerngeſund und (ſo viel bis jetzt zu ſehen iſt)
mit Talent und Neigung für Bildung und gute Sitten
begabt. Einen von den kleinern habe ich immer als meinen
Poſſenmacher (buffoncello) bei mir, wie denn die Kinder
vom dritten bis zum fünften Jahre geborene Buffonen ſind;
die größern behandle ich ſchon als meine Geſellſchaft, und
freue mich auch, da ſie herrliche Stimmen haben, ſie ſingen
und auf verſchiedenen Inſtrumenten ſpielen zu hören; ja
ich ſelbſt ſinge auch und habe jetzt eine beſſere, hellere, tö-
nendere Stimme als je. Das ſind die Freuden meines
Alters. Mein Leben iſt alſo ein lebendiges und kein todtes,
und ich möchte mein Alter nicht tauſchen gegen die Jugend
eines Solchen, der den Leidenſchaften verfallen iſt.“

In der „Ermahnung“, welche Cornaro viel ſpäter, in
ſeinem 95ſten Jahre beifügte, rechnet er zu ſeinem Glück
unter andern auch, daß ſein „Tractat“ viele Proſelyten ge-
wonnen habe. Er ſtarb zu Padua 1565, mehr als hundert-
jährig.

Characteriſtik
von Völkern u.
Städten.
Neben der Characteriſtik der einzelnen Individuen ent-
ſteht auch eine Gabe des Urtheils und der Schilderung für
ganze Bevölkerungen. Während des Mittelalters hatten
ſich im ganzen Abendlande Städte, Stämme und Völker
gegenſeitig mit Spott- und Scherzworten verfolgt, welche
meiſtens einen wahren Kern in ſtarker Verzerrung enthielten.
Von jeher aber thaten ſich die Italiener im Bewußtſein
der geiſtigen Unterſchiede ihrer Städte und Landſchaften
beſonders hervor; ihr Localpatriotismus, ſo groß oder größer
als bei irgend einem mittelalterlichen Volke, hatte frühe
ſchon eine literariſche Seite und verband ſich mit dem Be-
griff des Ruhmes; die Topographie entſteht als eine Paral-
lele der Biographie (S. 148). Während ſich nun jede größere
Stadt in Proſa und Verſen zu preiſen anfing 1), traten

1) Dieß zum Theil ſchon ſehr früh, in den lombardiſchen Städten ſchon
im XII. Jahrh. Vgl. Landulfus senior, Ricobaldus und (bei
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[338/0348] Mutter, alle kerngeſund und (ſo viel bis jetzt zu ſehen iſt) mit Talent und Neigung für Bildung und gute Sitten begabt. Einen von den kleinern habe ich immer als meinen Poſſenmacher (buffoncello) bei mir, wie denn die Kinder vom dritten bis zum fünften Jahre geborene Buffonen ſind; die größern behandle ich ſchon als meine Geſellſchaft, und freue mich auch, da ſie herrliche Stimmen haben, ſie ſingen und auf verſchiedenen Inſtrumenten ſpielen zu hören; ja ich ſelbſt ſinge auch und habe jetzt eine beſſere, hellere, tö- nendere Stimme als je. Das ſind die Freuden meines Alters. Mein Leben iſt alſo ein lebendiges und kein todtes, und ich möchte mein Alter nicht tauſchen gegen die Jugend eines Solchen, der den Leidenſchaften verfallen iſt.“ 4. Abſchnitt. In der „Ermahnung“, welche Cornaro viel ſpäter, in ſeinem 95ſten Jahre beifügte, rechnet er zu ſeinem Glück unter andern auch, daß ſein „Tractat“ viele Proſelyten ge- wonnen habe. Er ſtarb zu Padua 1565, mehr als hundert- jährig. Neben der Characteriſtik der einzelnen Individuen ent- ſteht auch eine Gabe des Urtheils und der Schilderung für ganze Bevölkerungen. Während des Mittelalters hatten ſich im ganzen Abendlande Städte, Stämme und Völker gegenſeitig mit Spott- und Scherzworten verfolgt, welche meiſtens einen wahren Kern in ſtarker Verzerrung enthielten. Von jeher aber thaten ſich die Italiener im Bewußtſein der geiſtigen Unterſchiede ihrer Städte und Landſchaften beſonders hervor; ihr Localpatriotismus, ſo groß oder größer als bei irgend einem mittelalterlichen Volke, hatte frühe ſchon eine literariſche Seite und verband ſich mit dem Be- griff des Ruhmes; die Topographie entſteht als eine Paral- lele der Biographie (S. 148). Während ſich nun jede größere Stadt in Proſa und Verſen zu preiſen anfing 1), traten Characteriſtik von Völkern u. Städten. 1) Dieß zum Theil ſchon ſehr früh, in den lombardiſchen Städten ſchon im XII. Jahrh. Vgl. Landulfus senior, Ricobaldus und (bei

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/348>, abgerufen am 19.04.2024.