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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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4. Abschnitt.recht anschaulich beschrieben, und von mehrern unserer deut-
schen Kaiser giebt es Schilderungen, nach antiken Mustern,
zumal Sueton, verfaßt, welche die kostbarsten Züge ent-
halten; ja diese und ähnliche profane "vitae" bilden all-
mälig eine fortlaufende Parallele zu den Heiligengeschichten.
Doch wird man weder Einhard noch Wippo noch Rade-
vicus 1) nennen dürfen neben Joinville's Schilderung des
heiligen Ludwig, welche als das erste vollkommene Geistes-
bildniß eines neu-europäischen Menschen, allerdings sehr ver-
einzelt dasteht. Charactere wie St. Ludwig sind überhaupt
selten, und dazu gesellt sich noch das seltene Glück, daß ein
völlig naiver Schilderer aus allen einzelnen Thaten und Er-
eignissen eines Lebens die Gesinnung heraus erkennt und
sprechend darstellt. Aus welch kümmerlichen Quellen muß
man das innere Wesen eines Friedrich II, eines Philipp
des Schönen zusammen errathen. Vieles was sich dann
bis zu Ende des Mittelalters als Biographie giebt, ist
eigentlich nur Zeitgeschichte und ohne Sinn für das Indi-
viduelle des zu preisenden Menschen geschrieben.

u. d. Italiener.Bei den Italienern wird nun das Aufsuchen der cha-
racteristischen Züge bedeutender Menschen eine herrschende
Tendenz, und dieß ist es was sie von den übrigen Abend-
ländern unterscheidet, bei welchen dergleichen mehr nur zu-
fällig und in außerordentlichen Fällen vorkömmt. Diesen
entwickelten Sinn für das Individuelle kann überhaupt nur
derjenige haben welcher selbst aus der Race herausgetreten
und zum Individuum geworden ist.

Im Zusammenhang mit dem weitherrschenden Begriff
des Ruhmes (S. 142, f.) entsteht eine sammelnde und ver-
gleichende Biographik, welche nicht mehr nöthig hat sich an
Dynastien und geistliche Reihenfolgen zu halten wie Ana-
stasius, Agnellus und ihre Nachfolger, oder wie die Dogen-
biographen von Venedig. Sie darf vielmehr den Menschen

1) Radevicus, de gestis Friderici imp., bes. II, 76. -- Die ausge-
zeichnete Vita Heinrici IV. enthält gerade wenig Personalschilderung.

4. Abſchnitt.recht anſchaulich beſchrieben, und von mehrern unſerer deut-
ſchen Kaiſer giebt es Schilderungen, nach antiken Muſtern,
zumal Sueton, verfaßt, welche die koſtbarſten Züge ent-
halten; ja dieſe und ähnliche profane „vitæ“ bilden all-
mälig eine fortlaufende Parallele zu den Heiligengeſchichten.
Doch wird man weder Einhard noch Wippo noch Rade-
vicus 1) nennen dürfen neben Joinville's Schilderung des
heiligen Ludwig, welche als das erſte vollkommene Geiſtes-
bildniß eines neu-europäiſchen Menſchen, allerdings ſehr ver-
einzelt daſteht. Charactere wie St. Ludwig ſind überhaupt
ſelten, und dazu geſellt ſich noch das ſeltene Glück, daß ein
völlig naiver Schilderer aus allen einzelnen Thaten und Er-
eigniſſen eines Lebens die Geſinnung heraus erkennt und
ſprechend darſtellt. Aus welch kümmerlichen Quellen muß
man das innere Weſen eines Friedrich II, eines Philipp
des Schönen zuſammen errathen. Vieles was ſich dann
bis zu Ende des Mittelalters als Biographie giebt, iſt
eigentlich nur Zeitgeſchichte und ohne Sinn für das Indi-
viduelle des zu preiſenden Menſchen geſchrieben.

u. d. Italiener.Bei den Italienern wird nun das Aufſuchen der cha-
racteriſtiſchen Züge bedeutender Menſchen eine herrſchende
Tendenz, und dieß iſt es was ſie von den übrigen Abend-
ländern unterſcheidet, bei welchen dergleichen mehr nur zu-
fällig und in außerordentlichen Fällen vorkömmt. Dieſen
entwickelten Sinn für das Individuelle kann überhaupt nur
derjenige haben welcher ſelbſt aus der Race herausgetreten
und zum Individuum geworden iſt.

Im Zuſammenhang mit dem weitherrſchenden Begriff
des Ruhmes (S. 142, f.) entſteht eine ſammelnde und ver-
gleichende Biographik, welche nicht mehr nöthig hat ſich an
Dynaſtien und geiſtliche Reihenfolgen zu halten wie Ana-
ſtaſius, Agnellus und ihre Nachfolger, oder wie die Dogen-
biographen von Venedig. Sie darf vielmehr den Menſchen

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zeichnete Vita Heinrici IV. enthält gerade wenig Perſonalſchilderung.
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[328/0338] recht anſchaulich beſchrieben, und von mehrern unſerer deut- ſchen Kaiſer giebt es Schilderungen, nach antiken Muſtern, zumal Sueton, verfaßt, welche die koſtbarſten Züge ent- halten; ja dieſe und ähnliche profane „vitæ“ bilden all- mälig eine fortlaufende Parallele zu den Heiligengeſchichten. Doch wird man weder Einhard noch Wippo noch Rade- vicus 1) nennen dürfen neben Joinville's Schilderung des heiligen Ludwig, welche als das erſte vollkommene Geiſtes- bildniß eines neu-europäiſchen Menſchen, allerdings ſehr ver- einzelt daſteht. Charactere wie St. Ludwig ſind überhaupt ſelten, und dazu geſellt ſich noch das ſeltene Glück, daß ein völlig naiver Schilderer aus allen einzelnen Thaten und Er- eigniſſen eines Lebens die Geſinnung heraus erkennt und ſprechend darſtellt. Aus welch kümmerlichen Quellen muß man das innere Weſen eines Friedrich II, eines Philipp des Schönen zuſammen errathen. Vieles was ſich dann bis zu Ende des Mittelalters als Biographie giebt, iſt eigentlich nur Zeitgeſchichte und ohne Sinn für das Indi- viduelle des zu preiſenden Menſchen geſchrieben. 4. Abſchnitt. Bei den Italienern wird nun das Aufſuchen der cha- racteriſtiſchen Züge bedeutender Menſchen eine herrſchende Tendenz, und dieß iſt es was ſie von den übrigen Abend- ländern unterſcheidet, bei welchen dergleichen mehr nur zu- fällig und in außerordentlichen Fällen vorkömmt. Dieſen entwickelten Sinn für das Individuelle kann überhaupt nur derjenige haben welcher ſelbſt aus der Race herausgetreten und zum Individuum geworden iſt. u. d. Italiener. Im Zuſammenhang mit dem weitherrſchenden Begriff des Ruhmes (S. 142, f.) entſteht eine ſammelnde und ver- gleichende Biographik, welche nicht mehr nöthig hat ſich an Dynaſtien und geiſtliche Reihenfolgen zu halten wie Ana- ſtaſius, Agnellus und ihre Nachfolger, oder wie die Dogen- biographen von Venedig. Sie darf vielmehr den Menſchen 1) Radevicus, de gestis Friderici imp., beſ. II, 76. — Die ausge- zeichnete Vita Heinrici IV. enthält gerade wenig Perſonalſchilderung.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/338>, abgerufen am 25.04.2024.