Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

Bild:
<< vorherige Seite

höchsten Anschauungen der Zeit über göttliche und mensch-4. Abschnitt.
liche Dinge, mit einem Wort: eines jener abschließenden
Weltbilder darstellen wie die göttliche Comödie und der
Faust sie bieten. Statt dessen verfährt er ganz wie die
damaligen bildenden Künstler und wird unsterblich, indem
er von der Originalität in unserm jetzigen Sinne abstrahirt,
an einem bekannten Kreise von Gestalten weiterbildet und
selbst das schon dagewesene Detail noch einmal benützt wo
es ihm dient. Was für Vorzüge bei einem solchen Ver-
fahren noch immer erreicht werden können, das wird Leuten
ohne künstlerisches Naturell um so viel schwerer begreiflich
zu machen sein je gelehrter und geistreicher sie sonst sein
mögen. Das Kunstziel des Ariosto ist das glanzvoll leben-Sein Styl.
dige "Geschehen", welches sich gleichmäßig durch das ganze
große Gedicht verbreitet. Er bedarf dazu einer Dispensa-
tion nicht nur von der tiefern Characterzeichnung sondern
auch von allem strengern Zusammenhang der Geschichten.
Er muß verlorene und vergessene Fäden wieder anknüpfen
dürfen wo es ihm beliebt; seine Figuren müssen kommen
und verschwinden, nicht weil ihr tieferes persönliches Wesen
sondern weil das Gedicht es so verlangt. Freilich innerhalb
dieser scheinbar irrationellen, willkürlichen Compositions-
weise entwickelt er eine völlig gesetzmäßige Schönheit. Er
verliert sich nie ins Beschreiben, sondern giebt immer nur
so viel Scenerie und Personenschilderung als mit dem Vor-
wärtsrücken der Ereignisse harmonisch verschmolzen werden
kann; noch weniger verliert er sich in Gespräche und Mo-
nologe 1), sondern er behauptet das majestätische Privilegium
des wahren Epos, Alles zu lebendigen Vorgängen zu gestal-
ten. Das Pathos liegt bei ihm nie in den Worten 2), vollends
nicht in dem berühmten dreiundzwanzigsten Gesang und den

1) Die eingelegten Reden sind nämlich wiederum nur Erzählungen.
2) Was sich Pulci wohl erlaubt hatte. Morgante, Canto XIX,
Str. 20, s.

höchſten Anſchauungen der Zeit über göttliche und menſch-4. Abſchnitt.
liche Dinge, mit einem Wort: eines jener abſchließenden
Weltbilder darſtellen wie die göttliche Comödie und der
Fauſt ſie bieten. Statt deſſen verfährt er ganz wie die
damaligen bildenden Künſtler und wird unſterblich, indem
er von der Originalität in unſerm jetzigen Sinne abſtrahirt,
an einem bekannten Kreiſe von Geſtalten weiterbildet und
ſelbſt das ſchon dageweſene Detail noch einmal benützt wo
es ihm dient. Was für Vorzüge bei einem ſolchen Ver-
fahren noch immer erreicht werden können, das wird Leuten
ohne künſtleriſches Naturell um ſo viel ſchwerer begreiflich
zu machen ſein je gelehrter und geiſtreicher ſie ſonſt ſein
mögen. Das Kunſtziel des Arioſto iſt das glanzvoll leben-Sein Styl.
dige „Geſchehen“, welches ſich gleichmäßig durch das ganze
große Gedicht verbreitet. Er bedarf dazu einer Dispenſa-
tion nicht nur von der tiefern Characterzeichnung ſondern
auch von allem ſtrengern Zuſammenhang der Geſchichten.
Er muß verlorene und vergeſſene Fäden wieder anknüpfen
dürfen wo es ihm beliebt; ſeine Figuren müſſen kommen
und verſchwinden, nicht weil ihr tieferes perſönliches Weſen
ſondern weil das Gedicht es ſo verlangt. Freilich innerhalb
dieſer ſcheinbar irrationellen, willkürlichen Compoſitions-
weiſe entwickelt er eine völlig geſetzmäßige Schönheit. Er
verliert ſich nie ins Beſchreiben, ſondern giebt immer nur
ſo viel Scenerie und Perſonenſchilderung als mit dem Vor-
wärtsrücken der Ereigniſſe harmoniſch verſchmolzen werden
kann; noch weniger verliert er ſich in Geſpräche und Mo-
nologe 1), ſondern er behauptet das majeſtätiſche Privilegium
des wahren Epos, Alles zu lebendigen Vorgängen zu geſtal-
ten. Das Pathos liegt bei ihm nie in den Worten 2), vollends
nicht in dem berühmten dreiundzwanzigſten Geſang und den

1) Die eingelegten Reden ſind nämlich wiederum nur Erzählungen.
2) Was ſich Pulci wohl erlaubt hatte. Morgante, Canto XIX,
Str. 20, s.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0335" n="325"/>
höch&#x017F;ten An&#x017F;chauungen der Zeit über göttliche und men&#x017F;ch-<note place="right"><hi rendition="#b"><hi rendition="#u">4. Ab&#x017F;chnitt.</hi></hi></note><lb/>
liche Dinge, mit einem Wort: eines jener ab&#x017F;chließenden<lb/>
Weltbilder dar&#x017F;tellen wie die göttliche Comödie und der<lb/>
Fau&#x017F;t &#x017F;ie bieten. Statt de&#x017F;&#x017F;en verfährt er ganz wie die<lb/>
damaligen bildenden Kün&#x017F;tler und wird un&#x017F;terblich, indem<lb/>
er von der Originalität in un&#x017F;erm jetzigen Sinne ab&#x017F;trahirt,<lb/>
an einem bekannten Krei&#x017F;e von Ge&#x017F;talten weiterbildet und<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t das &#x017F;chon dagewe&#x017F;ene Detail noch einmal benützt wo<lb/>
es ihm dient. Was für Vorzüge bei einem &#x017F;olchen Ver-<lb/>
fahren noch immer erreicht werden können, das wird Leuten<lb/>
ohne kün&#x017F;tleri&#x017F;ches Naturell um &#x017F;o viel &#x017F;chwerer begreiflich<lb/>
zu machen &#x017F;ein je gelehrter und gei&#x017F;treicher &#x017F;ie &#x017F;on&#x017F;t &#x017F;ein<lb/>
mögen. Das Kun&#x017F;tziel des Ario&#x017F;to i&#x017F;t das glanzvoll leben-<note place="right">Sein Styl.</note><lb/>
dige &#x201E;Ge&#x017F;chehen&#x201C;, welches &#x017F;ich gleichmäßig durch das ganze<lb/>
große Gedicht verbreitet. Er bedarf dazu einer Dispen&#x017F;a-<lb/>
tion nicht nur von der tiefern Characterzeichnung &#x017F;ondern<lb/>
auch von allem &#x017F;trengern Zu&#x017F;ammenhang der Ge&#x017F;chichten.<lb/>
Er muß verlorene und verge&#x017F;&#x017F;ene Fäden wieder anknüpfen<lb/>
dürfen wo es ihm beliebt; &#x017F;eine Figuren mü&#x017F;&#x017F;en kommen<lb/>
und ver&#x017F;chwinden, nicht weil ihr tieferes per&#x017F;önliches We&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ondern weil das Gedicht es &#x017F;o verlangt. Freilich innerhalb<lb/>
die&#x017F;er &#x017F;cheinbar irrationellen, willkürlichen Compo&#x017F;itions-<lb/>
wei&#x017F;e entwickelt er eine völlig ge&#x017F;etzmäßige Schönheit. Er<lb/>
verliert &#x017F;ich nie ins Be&#x017F;chreiben, &#x017F;ondern giebt immer nur<lb/>
&#x017F;o viel Scenerie und Per&#x017F;onen&#x017F;childerung als mit dem Vor-<lb/>
wärtsrücken der Ereigni&#x017F;&#x017F;e harmoni&#x017F;ch ver&#x017F;chmolzen werden<lb/>
kann; noch weniger verliert er &#x017F;ich in Ge&#x017F;präche und Mo-<lb/>
nologe <note place="foot" n="1)">Die eingelegten Reden &#x017F;ind nämlich wiederum nur Erzählungen.</note>, &#x017F;ondern er behauptet das maje&#x017F;täti&#x017F;che Privilegium<lb/>
des wahren Epos, Alles zu lebendigen Vorgängen zu ge&#x017F;tal-<lb/>
ten. Das Pathos liegt bei ihm nie in den Worten <note place="foot" n="2)">Was &#x017F;ich Pulci wohl erlaubt hatte. <hi rendition="#aq">Morgante, Canto XIX,<lb/>
Str. 20, s.</hi></note>, vollends<lb/>
nicht in dem berühmten dreiundzwanzig&#x017F;ten Ge&#x017F;ang und den<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[325/0335] höchſten Anſchauungen der Zeit über göttliche und menſch- liche Dinge, mit einem Wort: eines jener abſchließenden Weltbilder darſtellen wie die göttliche Comödie und der Fauſt ſie bieten. Statt deſſen verfährt er ganz wie die damaligen bildenden Künſtler und wird unſterblich, indem er von der Originalität in unſerm jetzigen Sinne abſtrahirt, an einem bekannten Kreiſe von Geſtalten weiterbildet und ſelbſt das ſchon dageweſene Detail noch einmal benützt wo es ihm dient. Was für Vorzüge bei einem ſolchen Ver- fahren noch immer erreicht werden können, das wird Leuten ohne künſtleriſches Naturell um ſo viel ſchwerer begreiflich zu machen ſein je gelehrter und geiſtreicher ſie ſonſt ſein mögen. Das Kunſtziel des Arioſto iſt das glanzvoll leben- dige „Geſchehen“, welches ſich gleichmäßig durch das ganze große Gedicht verbreitet. Er bedarf dazu einer Dispenſa- tion nicht nur von der tiefern Characterzeichnung ſondern auch von allem ſtrengern Zuſammenhang der Geſchichten. Er muß verlorene und vergeſſene Fäden wieder anknüpfen dürfen wo es ihm beliebt; ſeine Figuren müſſen kommen und verſchwinden, nicht weil ihr tieferes perſönliches Weſen ſondern weil das Gedicht es ſo verlangt. Freilich innerhalb dieſer ſcheinbar irrationellen, willkürlichen Compoſitions- weiſe entwickelt er eine völlig geſetzmäßige Schönheit. Er verliert ſich nie ins Beſchreiben, ſondern giebt immer nur ſo viel Scenerie und Perſonenſchilderung als mit dem Vor- wärtsrücken der Ereigniſſe harmoniſch verſchmolzen werden kann; noch weniger verliert er ſich in Geſpräche und Mo- nologe 1), ſondern er behauptet das majeſtätiſche Privilegium des wahren Epos, Alles zu lebendigen Vorgängen zu geſtal- ten. Das Pathos liegt bei ihm nie in den Worten 2), vollends nicht in dem berühmten dreiundzwanzigſten Geſang und den 4. Abſchnitt. Sein Styl. 1) Die eingelegten Reden ſind nämlich wiederum nur Erzählungen. 2) Was ſich Pulci wohl erlaubt hatte. Morgante, Canto XIX, Str. 20, s.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/335
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/335>, abgerufen am 25.11.2024.