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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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des XIV. Jahrhunderts der Fall; doch wuchsen die neu4. Abschnitt.
erwachenden Erinnerungen des Alterthums riesengroß da-
neben empor und stellten alle Phantasiebilder des Mittel-
alters in tiefen Schatten. Boccaccio z. B. in seiner Visione
amorosa nennt zwar unter den in seinem Zauberpalast
dargestellten Heroen auch einen Tristan, Artus, Galeotto etc.
mit, aber ganz kurz, als schämte er sich ihrer, und die folgen-
den Schriftsteller aller Art nennen sie entweder gar nicht
mehr oder nur im Scherz. Das Volk jedoch behielt sie im
Gedächtniß, und aus seinen Händen gingen sie dann wieder
an die Dichter des XV. Jahrhunderts über. Dieselben
konnten ihren Stoff nun ganz neu und frei empfinden und
darstellen; sie thaten aber noch mehr, indem sie unmittel-
bar daran weiter dichteten, ja sogar bei Weitem das Meiste
neu erfanden. Eines muß man nicht von ihnen verlangen:
daß sie einen so überkommenen Stoff hätten mit einem
vorweltlichen Respect behandeln sollen. Das ganze neuere
Europa darf sie darum beneiden, daß sie noch an die
Theilnahme ihres Volkes für eine bestimmte Phantasiewelt
anknüpfen konnten, aber sie hätten Heuchler sein müssen,
wenn sie dieselbe als Mythus verehrt hätten 1).

Statt dessen bewegen sie sich auf dem neu für dieDas Kunstziel.
Kunstpoesie gewonnenen Gebiete als Souveräne. Ihr
Hauptziel scheint die möglichst schöne und muntere Wirkung
des einzelnen Gesanges beim Recitiren gewesen zu sein,
wie denn auch diese Gedichte außerordentlich gewinnen wenn
man sie stückweise und vortrefflich, mit einem leisen Anflug
von Komik in Stimme und Geberde hersagen hört. Eine
tiefere, durchgeführte Characterzeichnung hätte zur Erhöhung
dieses Effectes nicht sonderlich beigetragen; der Leser mag

1) Pulci in seinem Muthwillen fingirt für seine Geschichte des Riesen
Margutte eine feierliche uralte Tradition. (Morgante, canto XIX,
str. 153, s.)
-- Noch drolliger lautet die kritische Einleitung des
Limerno Pitocco (Orlandino, cap. 1, str. 12--22).
Cultur der Renaissance. 21

des XIV. Jahrhunderts der Fall; doch wuchſen die neu4. Abſchnitt.
erwachenden Erinnerungen des Alterthums rieſengroß da-
neben empor und ſtellten alle Phantaſiebilder des Mittel-
alters in tiefen Schatten. Boccaccio z. B. in ſeiner Viſione
amoroſa nennt zwar unter den in ſeinem Zauberpalaſt
dargeſtellten Heroen auch einen Triſtan, Artus, Galeotto ꝛc.
mit, aber ganz kurz, als ſchämte er ſich ihrer, und die folgen-
den Schriftſteller aller Art nennen ſie entweder gar nicht
mehr oder nur im Scherz. Das Volk jedoch behielt ſie im
Gedächtniß, und aus ſeinen Händen gingen ſie dann wieder
an die Dichter des XV. Jahrhunderts über. Dieſelben
konnten ihren Stoff nun ganz neu und frei empfinden und
darſtellen; ſie thaten aber noch mehr, indem ſie unmittel-
bar daran weiter dichteten, ja ſogar bei Weitem das Meiſte
neu erfanden. Eines muß man nicht von ihnen verlangen:
daß ſie einen ſo überkommenen Stoff hätten mit einem
vorweltlichen Reſpect behandeln ſollen. Das ganze neuere
Europa darf ſie darum beneiden, daß ſie noch an die
Theilnahme ihres Volkes für eine beſtimmte Phantaſiewelt
anknüpfen konnten, aber ſie hätten Heuchler ſein müſſen,
wenn ſie dieſelbe als Mythus verehrt hätten 1).

Statt deſſen bewegen ſie ſich auf dem neu für dieDas Kunſtziel.
Kunſtpoeſie gewonnenen Gebiete als Souveräne. Ihr
Hauptziel ſcheint die möglichſt ſchöne und muntere Wirkung
des einzelnen Geſanges beim Recitiren geweſen zu ſein,
wie denn auch dieſe Gedichte außerordentlich gewinnen wenn
man ſie ſtückweiſe und vortrefflich, mit einem leiſen Anflug
von Komik in Stimme und Geberde herſagen hört. Eine
tiefere, durchgeführte Characterzeichnung hätte zur Erhöhung
dieſes Effectes nicht ſonderlich beigetragen; der Leſer mag

1) Pulci in ſeinem Muthwillen fingirt für ſeine Geſchichte des Rieſen
Margutte eine feierliche uralte Tradition. (Morgante, canto XIX,
str. 153, s.)
— Noch drolliger lautet die kritiſche Einleitung des
Limerno Pitocco (Orlandino, cap. 1, str. 12—22).
Cultur der Renaiſſance. 21
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[321/0331] des XIV. Jahrhunderts der Fall; doch wuchſen die neu erwachenden Erinnerungen des Alterthums rieſengroß da- neben empor und ſtellten alle Phantaſiebilder des Mittel- alters in tiefen Schatten. Boccaccio z. B. in ſeiner Viſione amoroſa nennt zwar unter den in ſeinem Zauberpalaſt dargeſtellten Heroen auch einen Triſtan, Artus, Galeotto ꝛc. mit, aber ganz kurz, als ſchämte er ſich ihrer, und die folgen- den Schriftſteller aller Art nennen ſie entweder gar nicht mehr oder nur im Scherz. Das Volk jedoch behielt ſie im Gedächtniß, und aus ſeinen Händen gingen ſie dann wieder an die Dichter des XV. Jahrhunderts über. Dieſelben konnten ihren Stoff nun ganz neu und frei empfinden und darſtellen; ſie thaten aber noch mehr, indem ſie unmittel- bar daran weiter dichteten, ja ſogar bei Weitem das Meiſte neu erfanden. Eines muß man nicht von ihnen verlangen: daß ſie einen ſo überkommenen Stoff hätten mit einem vorweltlichen Reſpect behandeln ſollen. Das ganze neuere Europa darf ſie darum beneiden, daß ſie noch an die Theilnahme ihres Volkes für eine beſtimmte Phantaſiewelt anknüpfen konnten, aber ſie hätten Heuchler ſein müſſen, wenn ſie dieſelbe als Mythus verehrt hätten 1). 4. Abſchnitt. Statt deſſen bewegen ſie ſich auf dem neu für die Kunſtpoeſie gewonnenen Gebiete als Souveräne. Ihr Hauptziel ſcheint die möglichſt ſchöne und muntere Wirkung des einzelnen Geſanges beim Recitiren geweſen zu ſein, wie denn auch dieſe Gedichte außerordentlich gewinnen wenn man ſie ſtückweiſe und vortrefflich, mit einem leiſen Anflug von Komik in Stimme und Geberde herſagen hört. Eine tiefere, durchgeführte Characterzeichnung hätte zur Erhöhung dieſes Effectes nicht ſonderlich beigetragen; der Leſer mag Das Kunſtziel. 1) Pulci in ſeinem Muthwillen fingirt für ſeine Geſchichte des Rieſen Margutte eine feierliche uralte Tradition. (Morgante, canto XIX, str. 153, s.) — Noch drolliger lautet die kritiſche Einleitung des Limerno Pitocco (Orlandino, cap. 1, str. 12—22). Cultur der Renaiſſance. 21

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/331>, abgerufen am 26.04.2024.