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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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4. Abschnitt.Momente, die ihm wohl eigen sein müssen, weil kein Anderer
vor ihm sie aufweist, und welche seinen eigentlichen Werth für
die Nation und die Welt ausmachen. Nicht überall ist der
Ausdruck gleichmäßig durchsichtig; nicht selten gesellt sich
dem Schönsten etwas für uns Fremdartiges bei, allegori-
sches Spielwerk und spitzfindige Sophistik; allein das Vor-
zügliche überwiegt.

Boccaccio.Auch Boccaccio erreicht in seinen zu wenig beachteten
Sonetten 1) eine bisweilen höchst ergreifende Darstellung
seines Gefühles. Der Wiederbesuch einer durch Liebe ge-
weihten Stätte (Son. 22), die Frühlings-Melancholie
(Son. 33), die Wehmuth des alternden Dichters (Son. 65)
sind von ihm ganz herrlich besungen. Sodann hat er im
Ameto die veredelnde und verklärende Kraft der Liebe in
einer Weise geschildert, wie man es von dem Verfasser des
Decamerone schwerlich erwarten würde 2). Endlich aber ist
seine "Fiammetta" ein großes, umständliches Seelengemälde
voll der tiefsten Beobachtung, wenn auch nichts weniger als
gleichmäßig durchgeführt, ja stellenweise unläugbar beherrscht
von der Lust an der prachtvoll tönenden Phrase; auch
Mythologie und Alterthum mischen sich bisweilen unglücklich
ein. Wenn wir nicht irren, so ist die Fiammetta ein weib-
liches Seitenstück zur Vita nuova des Dante, oder doch auf
Anregung von dieser Seite her entstanden.

Daß die antiken Dichter, zumal die Elegiker und das
vierte Buch der Aeneide, nicht ohne Einfluß 3) auf diese

1) Abgedruckt im XVI. Bande seiner Opere volgari.
2) Im Gesang des Hirten Teogapen, nach dem Venusfeste, Parnasso
teatrale, Lipsia 1829, p. VIII.
3) Der berühmte Lienardo Aretino als Haupt des Humanismus zu
Anfang des XV. Jahrh. meint zwar: che gli antichi Greci
d'umanita e di gentilezza di cuore abbino avanzato di gran
lunga i nostri Italiani,
allein er sagt es am Eingang einer No-
velle, welche die weichliche Geschichte vom kranken Prinzen Antiochus
und seiner Stiefmutter Stratonice, also einen an sich zweideutigen

4. Abſchnitt.Momente, die ihm wohl eigen ſein müſſen, weil kein Anderer
vor ihm ſie aufweist, und welche ſeinen eigentlichen Werth für
die Nation und die Welt ausmachen. Nicht überall iſt der
Ausdruck gleichmäßig durchſichtig; nicht ſelten geſellt ſich
dem Schönſten etwas für uns Fremdartiges bei, allegori-
ſches Spielwerk und ſpitzfindige Sophiſtik; allein das Vor-
zügliche überwiegt.

Boccaccio.Auch Boccaccio erreicht in ſeinen zu wenig beachteten
Sonetten 1) eine bisweilen höchſt ergreifende Darſtellung
ſeines Gefühles. Der Wiederbeſuch einer durch Liebe ge-
weihten Stätte (Son. 22), die Frühlings-Melancholie
(Son. 33), die Wehmuth des alternden Dichters (Son. 65)
ſind von ihm ganz herrlich beſungen. Sodann hat er im
Ameto die veredelnde und verklärende Kraft der Liebe in
einer Weiſe geſchildert, wie man es von dem Verfaſſer des
Decamerone ſchwerlich erwarten würde 2). Endlich aber iſt
ſeine „Fiammetta“ ein großes, umſtändliches Seelengemälde
voll der tiefſten Beobachtung, wenn auch nichts weniger als
gleichmäßig durchgeführt, ja ſtellenweiſe unläugbar beherrſcht
von der Luſt an der prachtvoll tönenden Phraſe; auch
Mythologie und Alterthum miſchen ſich bisweilen unglücklich
ein. Wenn wir nicht irren, ſo iſt die Fiammetta ein weib-
liches Seitenſtück zur Vita nuova des Dante, oder doch auf
Anregung von dieſer Seite her entſtanden.

Daß die antiken Dichter, zumal die Elegiker und das
vierte Buch der Aeneide, nicht ohne Einfluß 3) auf dieſe

1) Abgedruckt im XVI. Bande ſeiner Opere volgari.
2) Im Geſang des Hirten Teogapen, nach dem Venusfeſte, Parnasso
teatrale, Lipsia 1829, p. VIII.
3) Der berühmte Lienardo Aretino als Haupt des Humanismus zu
Anfang des XV. Jahrh. meint zwar: che gli antichi Greci
d'umanità e di gentilezza di cuore abbino avanzato di gran
lunga i nostri Italiani,
allein er ſagt es am Eingang einer No-
velle, welche die weichliche Geſchichte vom kranken Prinzen Antiochus
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[312/0322] Momente, die ihm wohl eigen ſein müſſen, weil kein Anderer vor ihm ſie aufweist, und welche ſeinen eigentlichen Werth für die Nation und die Welt ausmachen. Nicht überall iſt der Ausdruck gleichmäßig durchſichtig; nicht ſelten geſellt ſich dem Schönſten etwas für uns Fremdartiges bei, allegori- ſches Spielwerk und ſpitzfindige Sophiſtik; allein das Vor- zügliche überwiegt. 4. Abſchnitt. Auch Boccaccio erreicht in ſeinen zu wenig beachteten Sonetten 1) eine bisweilen höchſt ergreifende Darſtellung ſeines Gefühles. Der Wiederbeſuch einer durch Liebe ge- weihten Stätte (Son. 22), die Frühlings-Melancholie (Son. 33), die Wehmuth des alternden Dichters (Son. 65) ſind von ihm ganz herrlich beſungen. Sodann hat er im Ameto die veredelnde und verklärende Kraft der Liebe in einer Weiſe geſchildert, wie man es von dem Verfaſſer des Decamerone ſchwerlich erwarten würde 2). Endlich aber iſt ſeine „Fiammetta“ ein großes, umſtändliches Seelengemälde voll der tiefſten Beobachtung, wenn auch nichts weniger als gleichmäßig durchgeführt, ja ſtellenweiſe unläugbar beherrſcht von der Luſt an der prachtvoll tönenden Phraſe; auch Mythologie und Alterthum miſchen ſich bisweilen unglücklich ein. Wenn wir nicht irren, ſo iſt die Fiammetta ein weib- liches Seitenſtück zur Vita nuova des Dante, oder doch auf Anregung von dieſer Seite her entſtanden. Boccaccio. Daß die antiken Dichter, zumal die Elegiker und das vierte Buch der Aeneide, nicht ohne Einfluß 3) auf dieſe 1) Abgedruckt im XVI. Bande ſeiner Opere volgari. 2) Im Geſang des Hirten Teogapen, nach dem Venusfeſte, Parnasso teatrale, Lipsia 1829, p. VIII. 3) Der berühmte Lienardo Aretino als Haupt des Humanismus zu Anfang des XV. Jahrh. meint zwar: che gli antichi Greci d'umanità e di gentilezza di cuore abbino avanzato di gran lunga i nostri Italiani, allein er ſagt es am Eingang einer No- velle, welche die weichliche Geſchichte vom kranken Prinzen Antiochus und ſeiner Stiefmutter Stratonice, alſo einen an ſich zweideutigen

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/322>, abgerufen am 20.04.2024.