schaft oder Bosheit bereits getrübt waren. Hier giebt es1. Abschnitt. kein Lehnswesen im nordischen Sinn mit künstlich abgelei- teten Rechten, sondern die Macht, welche jeder besitzt, be- sitzt er (in der Regel) wenigstens factisch ganz. Hier giebt es keinen Geleitsadel, welcher im Gemüth der Fürsten den abstracten Ehrenpunkt mit all seinen wunderlichen Folge- rungen aufrecht hielte, sondern Fürsten und Rathgeber sind darin eins, daß nur nach der Lage der Dinge, nach den zu erreichenden Zwecken zu handeln sei. Gegen die Men- schen, die man benützt, gegen die Verbündeten, woher sie auch kommen mögen, existirt kein Kastenhochmuth, der irgend Jemanden abschrecken könnte, und zu allem Ueberfluß redet der Stand der Condottieren, wo die Herkunft völlig gleich- gültig ist, vernehmlich genug von der wirklichen Macht. Endlich kennen die Regierungen, als gebildete Despoten, ihr eigenes Land und die Länder ihrer Nachbarn ungleich genauer als ihre nordischen Zeitgenossen die ihrigen, und berechnen die Leistungsfähigkeit von Freund und Feind in öconomischer wie in moralischer Hinsicht bis ins Einzelste; sie erscheinen, trotz den schwersten Irrthümern, als geborene Statistiker.
Mit solchen Menschen konnte man unterhandeln, manDie Unterhand- lung. konnte sie zu überzeugen, d. h. durch thatsächliche Gründe zu bestimmen hoffen. Als der große Alfonso von Neapel (1434) Gefangener des Filippo Maria Visconti geworden war, wußte er diesen zu überzeugen, daß die Herrschaft des Hauses Anjou über Neapel statt der seinigen die Fran- zosen zu Herrn von Italien machen würde, und Jener ließ ihn ohne Lösegeld frei und schloß ein Bündniß mit ihm 1). Schwerlich hätte ein nordischer Fürst so gehandelt und ge- wiß keiner von der sonstigen Moralität des Visconti. Ein festes Vertrauen auf die Macht thatsächlicher Gründe be- weist auch der berühmte Besuch, welchen Lorenzo magnifico
1) U. a. Corio, fol. 333. Vgl. das Benehmen gegen Sforza, fol. 329.
Cultur der Renaissance. 7
ſchaft oder Bosheit bereits getrübt waren. Hier giebt es1. Abſchnitt. kein Lehnsweſen im nordiſchen Sinn mit künſtlich abgelei- teten Rechten, ſondern die Macht, welche jeder beſitzt, be- ſitzt er (in der Regel) wenigſtens factiſch ganz. Hier giebt es keinen Geleitsadel, welcher im Gemüth der Fürſten den abſtracten Ehrenpunkt mit all ſeinen wunderlichen Folge- rungen aufrecht hielte, ſondern Fürſten und Rathgeber ſind darin eins, daß nur nach der Lage der Dinge, nach den zu erreichenden Zwecken zu handeln ſei. Gegen die Men- ſchen, die man benützt, gegen die Verbündeten, woher ſie auch kommen mögen, exiſtirt kein Kaſtenhochmuth, der irgend Jemanden abſchrecken könnte, und zu allem Ueberfluß redet der Stand der Condottieren, wo die Herkunft völlig gleich- gültig iſt, vernehmlich genug von der wirklichen Macht. Endlich kennen die Regierungen, als gebildete Despoten, ihr eigenes Land und die Länder ihrer Nachbarn ungleich genauer als ihre nordiſchen Zeitgenoſſen die ihrigen, und berechnen die Leiſtungsfähigkeit von Freund und Feind in öconomiſcher wie in moraliſcher Hinſicht bis ins Einzelſte; ſie erſcheinen, trotz den ſchwerſten Irrthümern, als geborene Statiſtiker.
Mit ſolchen Menſchen konnte man unterhandeln, manDie Unterhand- lung. konnte ſie zu überzeugen, d. h. durch thatſächliche Gründe zu beſtimmen hoffen. Als der große Alfonſo von Neapel (1434) Gefangener des Filippo Maria Visconti geworden war, wußte er dieſen zu überzeugen, daß die Herrſchaft des Hauſes Anjou über Neapel ſtatt der ſeinigen die Fran- zoſen zu Herrn von Italien machen würde, und Jener ließ ihn ohne Löſegeld frei und ſchloß ein Bündniß mit ihm 1). Schwerlich hätte ein nordiſcher Fürſt ſo gehandelt und ge- wiß keiner von der ſonſtigen Moralität des Visconti. Ein feſtes Vertrauen auf die Macht thatſächlicher Gründe be- weist auch der berühmte Beſuch, welchen Lorenzo magnifico
1) U. a. Corio, fol. 333. Vgl. das Benehmen gegen Sforza, fol. 329.
Cultur der Renaiſſance. 7
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ſchaft oder Bosheit bereits getrübt waren. Hier giebt es
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ſitzt er (in der Regel) wenigſtens factiſch ganz. Hier giebt
es keinen Geleitsadel, welcher im Gemüth der Fürſten den
abſtracten Ehrenpunkt mit all ſeinen wunderlichen Folge-
rungen aufrecht hielte, ſondern Fürſten und Rathgeber ſind
darin eins, daß nur nach der Lage der Dinge, nach den
zu erreichenden Zwecken zu handeln ſei. Gegen die Men-
ſchen, die man benützt, gegen die Verbündeten, woher ſie
auch kommen mögen, exiſtirt kein Kaſtenhochmuth, der irgend
Jemanden abſchrecken könnte, und zu allem Ueberfluß redet
der Stand der Condottieren, wo die Herkunft völlig gleich-
gültig iſt, vernehmlich genug von der wirklichen Macht.
Endlich kennen die Regierungen, als gebildete Despoten,
ihr eigenes Land und die Länder ihrer Nachbarn ungleich
genauer als ihre nordiſchen Zeitgenoſſen die ihrigen, und
berechnen die Leiſtungsfähigkeit von Freund und Feind in
öconomiſcher wie in moraliſcher Hinſicht bis ins Einzelſte;
ſie erſcheinen, trotz den ſchwerſten Irrthümern, als geborene
Statiſtiker.
1. Abſchnitt.
Mit ſolchen Menſchen konnte man unterhandeln, man
konnte ſie zu überzeugen, d. h. durch thatſächliche Gründe
zu beſtimmen hoffen. Als der große Alfonſo von Neapel
(1434) Gefangener des Filippo Maria Visconti geworden
war, wußte er dieſen zu überzeugen, daß die Herrſchaft
des Hauſes Anjou über Neapel ſtatt der ſeinigen die Fran-
zoſen zu Herrn von Italien machen würde, und Jener ließ
ihn ohne Löſegeld frei und ſchloß ein Bündniß mit ihm 1).
Schwerlich hätte ein nordiſcher Fürſt ſo gehandelt und ge-
wiß keiner von der ſonſtigen Moralität des Visconti. Ein
feſtes Vertrauen auf die Macht thatſächlicher Gründe be-
weist auch der berühmte Beſuch, welchen Lorenzo magnifico
Die Unterhand-
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1) U. a. Corio, fol. 333. Vgl. das Benehmen gegen Sforza, fol. 329.
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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/107>, abgerufen am 25.11.2024.
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