kann die formelle Gültigkeit der Verträge stets in Frage gezogen werden.
2. Da keine zwingende Begrenzung des möglichen Vertrags- inhaltes besteht, kann die materielle Gültigkeit der Verträge stets in Frage gezogen werden.
Und es folgt daraus, daß die formelle wie die materielle Gültigkeit der Verträge, nicht nur in concreto, sondern auch im Grundsatz stets der Erörterung untersteht, mit anderen Worten, daß darüber keine formell festgelegten Sätze des positiven Rechts gelten wie im Landesrecht, sondern das, was sich jeweilen als ge- recht und billig erweisen läßt. Keineswegs aber ergibt sich daraus, daß die Einhaltung der Verträge nur eine Sache der Macht und der politischen Klugheit ist1; sie ist eine Sache des Rechts (vgl. oben S. 380), aber nicht des positiven, sondern des richtigen Rechts.
Wir haben auf die Gründe hingewiesen, weshalb es im Völker- recht kein positives Recht geben kann, und auf die Hindernisse, die insbesondere der Geltung von zwingendem Völkerrecht entgegen- stehen. Wenn man aber auf positives und auf zwingendes Völker- recht verzichten muß, kann man sich nicht wenigstens ein Völker- recht denken, das nicht zwingend, nicht einmal geltend -- positiv wäre, also nicht formell verbindlich, das aber doch, weil materiell richtig, Anspruch auf Anerkennung durch jeden Einsichtigen er- heben könnte und so mit Hilfe der Schiedsgerichtsbarkeit tat- sächliche Autorität erhielte; kann nicht, mit anderen Worten, die Wissenschaft darauf ausgehen, einen Kodex, formell zwar unver- bindlicher, inhaltlich aber einleuchtender Regeln aufzustellen, die eine gewisse Verständigung über das, was vernünftigerweise zu befolgen, was gerecht und billig ist, herbeiführen könnte?
Die Frage ist, ob einheitliche Regeln dieser Art gedacht werden können.
a) Dem Völkerrecht sind die Staaten, wie oben (S. 359, 392) bemerkt, gegeben; sie bilden seine logische Voraussetzung; sie sind nicht seine Geschöpfe. Es kann sie nicht selbst gestalten, weder ihr Gebiet noch ihre Organisation (und innere Rechtsord-
1 Wie vielfach von Rechtsphilosophen aller Länder gelehrt wor- den ist.
III. Teil. Die rechtsgeschäftliche Verfassung.
kann die formelle Gültigkeit der Verträge stets in Frage gezogen werden.
2. Da keine zwingende Begrenzung des möglichen Vertrags- inhaltes besteht, kann die materielle Gültigkeit der Verträge stets in Frage gezogen werden.
Und es folgt daraus, daß die formelle wie die materielle Gültigkeit der Verträge, nicht nur in concreto, sondern auch im Grundsatz stets der Erörterung untersteht, mit anderen Worten, daß darüber keine formell festgelegten Sätze des positiven Rechts gelten wie im Landesrecht, sondern das, was sich jeweilen als ge- recht und billig erweisen läßt. Keineswegs aber ergibt sich daraus, daß die Einhaltung der Verträge nur eine Sache der Macht und der politischen Klugheit ist1; sie ist eine Sache des Rechts (vgl. oben S. 380), aber nicht des positiven, sondern des richtigen Rechts.
Wir haben auf die Gründe hingewiesen, weshalb es im Völker- recht kein positives Recht geben kann, und auf die Hindernisse, die insbesondere der Geltung von zwingendem Völkerrecht entgegen- stehen. Wenn man aber auf positives und auf zwingendes Völker- recht verzichten muß, kann man sich nicht wenigstens ein Völker- recht denken, das nicht zwingend, nicht einmal geltend — positiv wäre, also nicht formell verbindlich, das aber doch, weil materiell richtig, Anspruch auf Anerkennung durch jeden Einsichtigen er- heben könnte und so mit Hilfe der Schiedsgerichtsbarkeit tat- sächliche Autorität erhielte; kann nicht, mit anderen Worten, die Wissenschaft darauf ausgehen, einen Kodex, formell zwar unver- bindlicher, inhaltlich aber einleuchtender Regeln aufzustellen, die eine gewisse Verständigung über das, was vernünftigerweise zu befolgen, was gerecht und billig ist, herbeiführen könnte?
Die Frage ist, ob einheitliche Regeln dieser Art gedacht werden können.
a) Dem Völkerrecht sind die Staaten, wie oben (S. 359, 392) bemerkt, gegeben; sie bilden seine logische Voraussetzung; sie sind nicht seine Geschöpfe. Es kann sie nicht selbst gestalten, weder ihr Gebiet noch ihre Organisation (und innere Rechtsord-
1 Wie vielfach von Rechtsphilosophen aller Länder gelehrt wor- den ist.
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III. Teil. Die rechtsgeschäftliche Verfassung.
kann die formelle Gültigkeit der Verträge stets in Frage gezogen
werden.
2. Da keine zwingende Begrenzung des möglichen Vertrags-
inhaltes besteht, kann die materielle Gültigkeit der Verträge
stets in Frage gezogen werden.
Und es folgt daraus, daß die formelle wie die materielle
Gültigkeit der Verträge, nicht nur in concreto, sondern auch im
Grundsatz stets der Erörterung untersteht, mit anderen Worten,
daß darüber keine formell festgelegten Sätze des positiven Rechts
gelten wie im Landesrecht, sondern das, was sich jeweilen als ge-
recht und billig erweisen läßt. Keineswegs aber ergibt sich daraus,
daß die Einhaltung der Verträge nur eine Sache der Macht und
der politischen Klugheit ist 1; sie ist eine Sache des Rechts (vgl.
oben S. 380), aber nicht des positiven, sondern des richtigen
Rechts.
Wir haben auf die Gründe hingewiesen, weshalb es im Völker-
recht kein positives Recht geben kann, und auf die Hindernisse,
die insbesondere der Geltung von zwingendem Völkerrecht entgegen-
stehen. Wenn man aber auf positives und auf zwingendes Völker-
recht verzichten muß, kann man sich nicht wenigstens ein Völker-
recht denken, das nicht zwingend, nicht einmal geltend — positiv
wäre, also nicht formell verbindlich, das aber doch, weil materiell
richtig, Anspruch auf Anerkennung durch jeden Einsichtigen er-
heben könnte und so mit Hilfe der Schiedsgerichtsbarkeit tat-
sächliche Autorität erhielte; kann nicht, mit anderen Worten, die
Wissenschaft darauf ausgehen, einen Kodex, formell zwar unver-
bindlicher, inhaltlich aber einleuchtender Regeln aufzustellen, die
eine gewisse Verständigung über das, was vernünftigerweise zu
befolgen, was gerecht und billig ist, herbeiführen könnte?
Die Frage ist, ob einheitliche Regeln dieser Art gedacht
werden können.
a) Dem Völkerrecht sind die Staaten, wie oben (S. 359, 392)
bemerkt, gegeben; sie bilden seine logische Voraussetzung; sie
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/411>, abgerufen am 22.11.2024.
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