Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Erzwingung des Rechts.
werden. Aber ein unvollkommener Mensch kann nicht bean-
spruchen, anderen unvollkommenen Menschen gegenüber diese
Rolle des vollkommen einsichtigen Erziehers zu spielen; er kann
sich bloß zum Sprachrohr der Stimme machen, die allen gemein-
sam im Gewissen hörbar ist1. Und er als Mensch soll die Re-
habilitation anderen Menschen nicht verweigern, die ihre Fehler
aufrichtig bereuen, jedesmal wo sie es tun; wogegen es allerdings
keinen Sinn hätte, die sittliche Verurteilung aufzuheben gegen-
über demjenigen, der seinen Fehler nicht selbst wirklich verurteilt.
Das ist die folgerichtige Haltung des Menschen, der im Namen
der Moral, der Gewissenspflicht spricht. Die folgerichtige Haltung
des Vertreters der Rechtsordnung, des Staates, gegenüber dem-
jenigen, der sie mißachtet, ist aber der Zwang. Das Recht verlangt
nur die Konformität des äußeren Verhaltens, deshalb muß es auch
dieses Verhalten erzwingen; es würde sonst gar nichts leisten.
Es muß die Konformität anerkennen, auch wenn ihr die innere
Unterordnung des Willens fehlt. Aber es kann sich auch nicht
begnügen mit der inneren Zustimmung und Unterziehung, wenn
das äußere Verhalten ihm nicht entspricht oder nicht entsprochen
hat. Es muß den äußeren Gehorsam erzwingen oder, wo der
unmittelbare Zwang versagt, die Übernahme eines entsprechenden
Unrechtes als Strafe erzwingen.

Das Wesen der Strafe im Rechtssinne erkennt man erst, wenn
man sich der Eigenart des Rechtes selbst bewußt wird.



Die Leistung der staatlichen Organisation ist also, die Rechts-
idee in die Wirklichkeit überzuführen. Durch die drei Stufen der
Rechtssetzung, d. h. der Anwendung der Rechtsidee auf eine ge-
gebene Gesellschaft, der Rechtsanwendung, d. h. der Anwendung
der Rechtssätze auf die gegebenen Fälle, und der Rechtsvoll-
streckung, d. h. der Anwendung des Zwanges, gemäß der rechts-
anwendenden Entscheidungen, oder der Strafe. Diese drei Stufen
lassen sich nicht im Verfahren und in der Behördengliederung jedes
Staates erkennen; es kann sein und ist oft gewesen, daß Rechts-

1 Vgl. Stahl, Philosophie des Rechts, 5. A., II b 176 ff. Scheler
a. a. O. 374.
Burckhardt, Organisation. 20

Die Erzwingung des Rechts.
werden. Aber ein unvollkommener Mensch kann nicht bean-
spruchen, anderen unvollkommenen Menschen gegenüber diese
Rolle des vollkommen einsichtigen Erziehers zu spielen; er kann
sich bloß zum Sprachrohr der Stimme machen, die allen gemein-
sam im Gewissen hörbar ist1. Und er als Mensch soll die Re-
habilitation anderen Menschen nicht verweigern, die ihre Fehler
aufrichtig bereuen, jedesmal wo sie es tun; wogegen es allerdings
keinen Sinn hätte, die sittliche Verurteilung aufzuheben gegen-
über demjenigen, der seinen Fehler nicht selbst wirklich verurteilt.
Das ist die folgerichtige Haltung des Menschen, der im Namen
der Moral, der Gewissenspflicht spricht. Die folgerichtige Haltung
des Vertreters der Rechtsordnung, des Staates, gegenüber dem-
jenigen, der sie mißachtet, ist aber der Zwang. Das Recht verlangt
nur die Konformität des äußeren Verhaltens, deshalb muß es auch
dieses Verhalten erzwingen; es würde sonst gar nichts leisten.
Es muß die Konformität anerkennen, auch wenn ihr die innere
Unterordnung des Willens fehlt. Aber es kann sich auch nicht
begnügen mit der inneren Zustimmung und Unterziehung, wenn
das äußere Verhalten ihm nicht entspricht oder nicht entsprochen
hat. Es muß den äußeren Gehorsam erzwingen oder, wo der
unmittelbare Zwang versagt, die Übernahme eines entsprechenden
Unrechtes als Strafe erzwingen.

Das Wesen der Strafe im Rechtssinne erkennt man erst, wenn
man sich der Eigenart des Rechtes selbst bewußt wird.



Die Leistung der staatlichen Organisation ist also, die Rechts-
idee in die Wirklichkeit überzuführen. Durch die drei Stufen der
Rechtssetzung, d. h. der Anwendung der Rechtsidee auf eine ge-
gebene Gesellschaft, der Rechtsanwendung, d. h. der Anwendung
der Rechtssätze auf die gegebenen Fälle, und der Rechtsvoll-
streckung, d. h. der Anwendung des Zwanges, gemäß der rechts-
anwendenden Entscheidungen, oder der Strafe. Diese drei Stufen
lassen sich nicht im Verfahren und in der Behördengliederung jedes
Staates erkennen; es kann sein und ist oft gewesen, daß Rechts-

1 Vgl. Stahl, Philosophie des Rechts, 5. A., II b 176 ff. Scheler
a. a. O. 374.
Burckhardt, Organisation. 20
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0320" n="305"/><fw place="top" type="header">Die Erzwingung des Rechts.</fw><lb/>
werden. Aber ein unvollkommener Mensch kann nicht bean-<lb/>
spruchen, anderen unvollkommenen Menschen gegenüber diese<lb/>
Rolle des vollkommen einsichtigen Erziehers zu spielen; er kann<lb/>
sich bloß zum Sprachrohr <hi rendition="#g">der</hi> Stimme machen, die allen gemein-<lb/>
sam im Gewissen hörbar ist<note place="foot" n="1">Vgl. <hi rendition="#g">Stahl,</hi> Philosophie des Rechts, 5. A., II b 176 ff. <hi rendition="#g">Scheler</hi><lb/>
a. a. O. 374.</note>. Und er als Mensch soll die Re-<lb/>
habilitation anderen Menschen nicht verweigern, die ihre Fehler<lb/>
aufrichtig bereuen, <hi rendition="#g">jedes</hi>mal wo sie es tun; wogegen es allerdings<lb/>
keinen Sinn hätte, die sittliche Verurteilung aufzuheben gegen-<lb/>
über demjenigen, der seinen Fehler nicht selbst wirklich verurteilt.<lb/>
Das ist die folgerichtige Haltung des Menschen, der im Namen<lb/>
der Moral, der Gewissenspflicht spricht. Die folgerichtige Haltung<lb/>
des Vertreters der Rechtsordnung, des Staates, gegenüber dem-<lb/>
jenigen, der sie mißachtet, ist aber der Zwang. Das Recht verlangt<lb/>
nur die Konformität des äußeren Verhaltens, deshalb muß es auch<lb/>
dieses Verhalten erzwingen; es würde sonst gar nichts leisten.<lb/>
Es muß die Konformität anerkennen, auch wenn ihr die innere<lb/>
Unterordnung des Willens fehlt. Aber es kann sich auch nicht<lb/>
begnügen mit der inneren Zustimmung und Unterziehung, wenn<lb/>
das äußere Verhalten ihm nicht entspricht oder nicht entsprochen<lb/>
hat. Es muß den äußeren Gehorsam erzwingen oder, wo der<lb/>
unmittelbare Zwang versagt, die Übernahme eines entsprechenden<lb/>
Unrechtes als Strafe erzwingen.</p><lb/>
              <p>Das Wesen der Strafe im Rechtssinne erkennt man erst, wenn<lb/>
man sich der Eigenart des Rechtes selbst bewußt wird.</p><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
              <p>Die Leistung der staatlichen Organisation ist also, die Rechts-<lb/>
idee in die Wirklichkeit überzuführen. Durch die drei Stufen der<lb/>
Rechtssetzung, d. h. der Anwendung der Rechtsidee auf eine ge-<lb/>
gebene Gesellschaft, der Rechtsanwendung, d. h. der Anwendung<lb/>
der Rechtssätze auf die gegebenen Fälle, und der Rechtsvoll-<lb/>
streckung, d. h. der Anwendung des Zwanges, gemäß der rechts-<lb/>
anwendenden Entscheidungen, oder der Strafe. Diese drei Stufen<lb/>
lassen sich nicht im Verfahren und in der Behördengliederung jedes<lb/>
Staates erkennen; es kann sein und ist oft gewesen, daß Rechts-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Burckhardt,</hi> Organisation. 20</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[305/0320] Die Erzwingung des Rechts. werden. Aber ein unvollkommener Mensch kann nicht bean- spruchen, anderen unvollkommenen Menschen gegenüber diese Rolle des vollkommen einsichtigen Erziehers zu spielen; er kann sich bloß zum Sprachrohr der Stimme machen, die allen gemein- sam im Gewissen hörbar ist 1. Und er als Mensch soll die Re- habilitation anderen Menschen nicht verweigern, die ihre Fehler aufrichtig bereuen, jedesmal wo sie es tun; wogegen es allerdings keinen Sinn hätte, die sittliche Verurteilung aufzuheben gegen- über demjenigen, der seinen Fehler nicht selbst wirklich verurteilt. Das ist die folgerichtige Haltung des Menschen, der im Namen der Moral, der Gewissenspflicht spricht. Die folgerichtige Haltung des Vertreters der Rechtsordnung, des Staates, gegenüber dem- jenigen, der sie mißachtet, ist aber der Zwang. Das Recht verlangt nur die Konformität des äußeren Verhaltens, deshalb muß es auch dieses Verhalten erzwingen; es würde sonst gar nichts leisten. Es muß die Konformität anerkennen, auch wenn ihr die innere Unterordnung des Willens fehlt. Aber es kann sich auch nicht begnügen mit der inneren Zustimmung und Unterziehung, wenn das äußere Verhalten ihm nicht entspricht oder nicht entsprochen hat. Es muß den äußeren Gehorsam erzwingen oder, wo der unmittelbare Zwang versagt, die Übernahme eines entsprechenden Unrechtes als Strafe erzwingen. Das Wesen der Strafe im Rechtssinne erkennt man erst, wenn man sich der Eigenart des Rechtes selbst bewußt wird. Die Leistung der staatlichen Organisation ist also, die Rechts- idee in die Wirklichkeit überzuführen. Durch die drei Stufen der Rechtssetzung, d. h. der Anwendung der Rechtsidee auf eine ge- gebene Gesellschaft, der Rechtsanwendung, d. h. der Anwendung der Rechtssätze auf die gegebenen Fälle, und der Rechtsvoll- streckung, d. h. der Anwendung des Zwanges, gemäß der rechts- anwendenden Entscheidungen, oder der Strafe. Diese drei Stufen lassen sich nicht im Verfahren und in der Behördengliederung jedes Staates erkennen; es kann sein und ist oft gewesen, daß Rechts- 1 Vgl. Stahl, Philosophie des Rechts, 5. A., II b 176 ff. Scheler a. a. O. 374. Burckhardt, Organisation. 20

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/320
Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/320>, abgerufen am 22.11.2024.