Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
welche die Rechtsfolge zu bestimmen hat: der Steuerveranlagung,
der Änderung der gewerblichen Anlage, der Entziehung der elter-
lichen Gewalt, der Strafe, mit einem Wort: einer Feststellung der
Behörde, welche diesen sekundären Rechtssatz anzuwenden hat.
Jede verpflichtende Anordnung der rechtsanwendenden Behörden
hat eine solche gesetzliche Pflicht der Rechtsgenossen zur Voraus-
setzung: Die Steuerveranlagung die Steuerpflicht; die Entziehung
der elterlichen Gewalt die Elternpflicht; die Bestrafung die Ver-
haltungsnorm; und daß diese Pflicht im gegebenen Falle vorliege
bzw. verletzt worden sei, hat die rechtsanwendende Behörde behufs
Entschließung über die zu treffende Anordnung verbindlich fest-
zustellen; darin besteht, wie oben erwähnt, ihre rechtsanwendende
Tätigkeit.

Der einzelne Rechtsgenosse aber, an den sich die Verhaltungs-
norm selbst wendet, hat keine solche verbindliche, maßgebende
Feststellung vorzunehmen. Er hat zwar die Voraussetzung in
seiner Rechtspflicht zu prüfen, aber seine "Entscheidung" darüber
entscheidet nichts; sie läßt die Frage, ob die Voraussetzungen vor-
liegen oder nicht, unentschieden. Er kann eben das Gesetz, das
ihn verpflichtet, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes anwenden;
nur der Vertreter der Ordnung, die das Gesetz aufgestellt hat, die
staatliche Behörde, kann es.

Es ist daher nicht zufällig, daß die primären Verhaltungs-
regeln, sofern sie lediglich als solche (und ohne Erwähnung ihrer
Durchführung durch die Behörde und der Rechtsfolgen der Ver-
letzung) aufgestellt werden, wie in den obigen Beispielen, meist
nicht in die grammatikalische Form von bedingten Sätzen ge-
kleidet werden, sondern von unbedingten kategorischen Befehlen.
Aber die grammatikalische Form ist selbstverständlich nicht ent-
scheidend. Auch die in solchen Verhaltungsmaßregeln ausge-
drückten Pflichten haben im logischen Sinn ihre tatsächlichen
Voraussetzungen, und gelegentlich werden sie auch in einem Wenn-
Satze mitgeteilt, z. B. "Wenn Föhn weht, sollen alle Herdfeuer
gelöscht werden"; "Wenn jemand mehr als Fr. 1000. -- reines
Vermögen hat, soll er es erklären". Das ist ein Zufall des Aus-
druckes. Wo nun das Gesetz das Verhalten der Rechtsgenossen
bestimmt, hat der Rechtsgenosse sich zwar über das Vorhanden-
sein dieser Voraussetzungen schlüssig zu machen, aber er ent-

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
welche die Rechtsfolge zu bestimmen hat: der Steuerveranlagung,
der Änderung der gewerblichen Anlage, der Entziehung der elter-
lichen Gewalt, der Strafe, mit einem Wort: einer Feststellung der
Behörde, welche diesen sekundären Rechtssatz anzuwenden hat.
Jede verpflichtende Anordnung der rechtsanwendenden Behörden
hat eine solche gesetzliche Pflicht der Rechtsgenossen zur Voraus-
setzung: Die Steuerveranlagung die Steuerpflicht; die Entziehung
der elterlichen Gewalt die Elternpflicht; die Bestrafung die Ver-
haltungsnorm; und daß diese Pflicht im gegebenen Falle vorliege
bzw. verletzt worden sei, hat die rechtsanwendende Behörde behufs
Entschließung über die zu treffende Anordnung verbindlich fest-
zustellen; darin besteht, wie oben erwähnt, ihre rechtsanwendende
Tätigkeit.

Der einzelne Rechtsgenosse aber, an den sich die Verhaltungs-
norm selbst wendet, hat keine solche verbindliche, maßgebende
Feststellung vorzunehmen. Er hat zwar die Voraussetzung in
seiner Rechtspflicht zu prüfen, aber seine „Entscheidung“ darüber
entscheidet nichts; sie läßt die Frage, ob die Voraussetzungen vor-
liegen oder nicht, unentschieden. Er kann eben das Gesetz, das
ihn verpflichtet, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes anwenden;
nur der Vertreter der Ordnung, die das Gesetz aufgestellt hat, die
staatliche Behörde, kann es.

Es ist daher nicht zufällig, daß die primären Verhaltungs-
regeln, sofern sie lediglich als solche (und ohne Erwähnung ihrer
Durchführung durch die Behörde und der Rechtsfolgen der Ver-
letzung) aufgestellt werden, wie in den obigen Beispielen, meist
nicht in die grammatikalische Form von bedingten Sätzen ge-
kleidet werden, sondern von unbedingten kategorischen Befehlen.
Aber die grammatikalische Form ist selbstverständlich nicht ent-
scheidend. Auch die in solchen Verhaltungsmaßregeln ausge-
drückten Pflichten haben im logischen Sinn ihre tatsächlichen
Voraussetzungen, und gelegentlich werden sie auch in einem Wenn-
Satze mitgeteilt, z. B. „Wenn Föhn weht, sollen alle Herdfeuer
gelöscht werden“; „Wenn jemand mehr als Fr. 1000. — reines
Vermögen hat, soll er es erklären“. Das ist ein Zufall des Aus-
druckes. Wo nun das Gesetz das Verhalten der Rechtsgenossen
bestimmt, hat der Rechtsgenosse sich zwar über das Vorhanden-
sein dieser Voraussetzungen schlüssig zu machen, aber er ent-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0317" n="302"/><fw place="top" type="header">II. Teil. Die staatliche Verfassung.</fw><lb/>
welche die Rechtsfolge zu bestimmen hat: der Steuerveranlagung,<lb/>
der Änderung der gewerblichen Anlage, der Entziehung der elter-<lb/>
lichen Gewalt, der Strafe, mit einem Wort: einer Feststellung der<lb/>
Behörde, welche diesen sekundären Rechtssatz anzuwenden hat.<lb/><hi rendition="#g">Jede</hi> verpflichtende Anordnung der rechtsanwendenden Behörden<lb/>
hat eine solche gesetzliche Pflicht der Rechtsgenossen zur Voraus-<lb/>
setzung: Die Steuerveranlagung die Steuerpflicht; die Entziehung<lb/>
der elterlichen Gewalt die Elternpflicht; die Bestrafung die Ver-<lb/>
haltungsnorm; und daß diese Pflicht im gegebenen Falle vorliege<lb/>
bzw. verletzt worden sei, hat die rechtsanwendende Behörde behufs<lb/>
Entschließung über die zu treffende Anordnung verbindlich fest-<lb/>
zustellen; darin besteht, wie oben erwähnt, ihre rechtsanwendende<lb/>
Tätigkeit.</p><lb/>
              <p>Der einzelne Rechtsgenosse aber, an den sich die Verhaltungs-<lb/>
norm selbst wendet, hat keine solche verbindliche, maßgebende<lb/>
Feststellung vorzunehmen. Er hat zwar die Voraussetzung in<lb/>
seiner Rechtspflicht zu prüfen, aber seine &#x201E;Entscheidung&#x201C; darüber<lb/>
entscheidet nichts; sie läßt die Frage, ob die Voraussetzungen vor-<lb/>
liegen oder nicht, unentschieden. Er kann eben das Gesetz, das<lb/>
ihn verpflichtet, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes anwenden;<lb/>
nur der Vertreter der Ordnung, die das Gesetz aufgestellt hat, die<lb/>
staatliche Behörde, kann es.</p><lb/>
              <p>Es ist daher nicht zufällig, daß die primären Verhaltungs-<lb/>
regeln, sofern sie lediglich als solche (und ohne Erwähnung ihrer<lb/>
Durchführung durch die Behörde und der Rechtsfolgen der Ver-<lb/>
letzung) aufgestellt werden, wie in den obigen Beispielen, meist<lb/>
nicht in die grammatikalische Form von bedingten Sätzen ge-<lb/>
kleidet werden, sondern von unbedingten kategorischen Befehlen.<lb/>
Aber die grammatikalische Form ist selbstverständlich nicht ent-<lb/>
scheidend. Auch die in solchen Verhaltungsmaßregeln ausge-<lb/>
drückten Pflichten haben im logischen Sinn ihre tatsächlichen<lb/>
Voraussetzungen, und gelegentlich werden sie auch in einem Wenn-<lb/>
Satze mitgeteilt, z. B. &#x201E;Wenn Föhn weht, sollen alle Herdfeuer<lb/>
gelöscht werden&#x201C;; &#x201E;Wenn jemand mehr als Fr. 1000. &#x2014; reines<lb/>
Vermögen hat, soll er es erklären&#x201C;. Das ist ein Zufall des Aus-<lb/>
druckes. Wo nun das Gesetz das Verhalten der Rechtsgenossen<lb/>
bestimmt, hat der Rechtsgenosse sich zwar über das Vorhanden-<lb/>
sein dieser Voraussetzungen schlüssig zu machen, aber er ent-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[302/0317] II. Teil. Die staatliche Verfassung. welche die Rechtsfolge zu bestimmen hat: der Steuerveranlagung, der Änderung der gewerblichen Anlage, der Entziehung der elter- lichen Gewalt, der Strafe, mit einem Wort: einer Feststellung der Behörde, welche diesen sekundären Rechtssatz anzuwenden hat. Jede verpflichtende Anordnung der rechtsanwendenden Behörden hat eine solche gesetzliche Pflicht der Rechtsgenossen zur Voraus- setzung: Die Steuerveranlagung die Steuerpflicht; die Entziehung der elterlichen Gewalt die Elternpflicht; die Bestrafung die Ver- haltungsnorm; und daß diese Pflicht im gegebenen Falle vorliege bzw. verletzt worden sei, hat die rechtsanwendende Behörde behufs Entschließung über die zu treffende Anordnung verbindlich fest- zustellen; darin besteht, wie oben erwähnt, ihre rechtsanwendende Tätigkeit. Der einzelne Rechtsgenosse aber, an den sich die Verhaltungs- norm selbst wendet, hat keine solche verbindliche, maßgebende Feststellung vorzunehmen. Er hat zwar die Voraussetzung in seiner Rechtspflicht zu prüfen, aber seine „Entscheidung“ darüber entscheidet nichts; sie läßt die Frage, ob die Voraussetzungen vor- liegen oder nicht, unentschieden. Er kann eben das Gesetz, das ihn verpflichtet, nicht im eigentlichen Sinne des Wortes anwenden; nur der Vertreter der Ordnung, die das Gesetz aufgestellt hat, die staatliche Behörde, kann es. Es ist daher nicht zufällig, daß die primären Verhaltungs- regeln, sofern sie lediglich als solche (und ohne Erwähnung ihrer Durchführung durch die Behörde und der Rechtsfolgen der Ver- letzung) aufgestellt werden, wie in den obigen Beispielen, meist nicht in die grammatikalische Form von bedingten Sätzen ge- kleidet werden, sondern von unbedingten kategorischen Befehlen. Aber die grammatikalische Form ist selbstverständlich nicht ent- scheidend. Auch die in solchen Verhaltungsmaßregeln ausge- drückten Pflichten haben im logischen Sinn ihre tatsächlichen Voraussetzungen, und gelegentlich werden sie auch in einem Wenn- Satze mitgeteilt, z. B. „Wenn Föhn weht, sollen alle Herdfeuer gelöscht werden“; „Wenn jemand mehr als Fr. 1000. — reines Vermögen hat, soll er es erklären“. Das ist ein Zufall des Aus- druckes. Wo nun das Gesetz das Verhalten der Rechtsgenossen bestimmt, hat der Rechtsgenosse sich zwar über das Vorhanden- sein dieser Voraussetzungen schlüssig zu machen, aber er ent-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/317
Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/317>, abgerufen am 25.11.2024.