Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Gewohnheitsrecht.

Wenn aber erst die Behörde durch ihr Verhalten Zweifel über
das geltende Recht entstehen läßt, wie soll sie sich denn verhalten?
Soll sie, bevor solche Zweifel möglich sind, vom Gesetz abweichen?
Ist sie berechtigt, ein Gewohnheitsrecht, d. h. eben dem geltenden
Gesetzesrecht widersprechendes Recht, zu schaffen? Die Frage
stellen, heißt, sie beantworten. Wenn im Augenblick der ersten
Entscheidung (oder Entschließung zu positivem oder negativem
Verhalten) noch kein Zweifel über die Geltung des gesetzten
Rechtes aufkommen konnte, so mußte die Behörde dieses Recht,
das einzig geltende Recht, auch zweifellos anwenden. Berechtigt,
etwas anderes zu tun, konnte die Behörde nicht sein, die eingesetzt
ist, um das Gesetz anzuwenden1. Wenn es trotzdem geschieht,
so kann es nicht berechtigter-, sondern nur unberechtigterweise
geschehen, und diese gesetzwidrige Praxis ist nur mehr als
Tatsache, als zwar gegebene, aber irrationale Tatsache, von Be-
deutung.

Deshalb sind auch alle Versuche, die Berechtigung des
Gewohnheitsrechtes zu beweisen, fehlgeschlagen; und doch käme
es gerade darauf an. Man müßte die Berechtigung des Gewohn-
heitsrechtes im Verhältnis zum Gesetzesrecht beweisen.

Das Gewohnheitsrecht läßt sich aber in kein organisches Ver-
hältnis zum Gesetzesrecht bringen. Man kann sich dieses Ver-
hältnis als das der Unterordnung, der Nebenordnung oder der Über-
ordnung denken:

Nimmt man an, das Gewohnheitsrecht sei dem Gesetzesrecht
untergeordnet, d. h. es gelte nur, weil und soweit das Gesetz es
zulasse, so mutet man dem Gesetzgeber den Widerspruch zu, daß
er etwas befehle und etwas anderes erlaube; der Gesetzgeber kann
die Verbindlichkeit seiner Vorschrift nicht vom Urteil anderer
Personen abhängig machen; er kann nur, was er nicht selbst
ordnen oder abschließend ordnen will, dem Urteil der rechts-
anwendenden Behörden zu ergänzen überlassen. Dann gilt, was
zur Ergänzung des Gesetzesrechtes notwendig ist, allerdings nur,
so wie die rechtsanwendende Behörde es bestimmt; aber es gilt,
weil das Gesetz es zuläßt; und es ist, wie die Grundsätze der ge-
richtlichen oder behördlichen Rechtsprechung und Praxis über-

1 Schuppe a. a. O. 130.
Das Gewohnheitsrecht.

Wenn aber erst die Behörde durch ihr Verhalten Zweifel über
das geltende Recht entstehen läßt, wie soll sie sich denn verhalten?
Soll sie, bevor solche Zweifel möglich sind, vom Gesetz abweichen?
Ist sie berechtigt, ein Gewohnheitsrecht, d. h. eben dem geltenden
Gesetzesrecht widersprechendes Recht, zu schaffen? Die Frage
stellen, heißt, sie beantworten. Wenn im Augenblick der ersten
Entscheidung (oder Entschließung zu positivem oder negativem
Verhalten) noch kein Zweifel über die Geltung des gesetzten
Rechtes aufkommen konnte, so mußte die Behörde dieses Recht,
das einzig geltende Recht, auch zweifellos anwenden. Berechtigt,
etwas anderes zu tun, konnte die Behörde nicht sein, die eingesetzt
ist, um das Gesetz anzuwenden1. Wenn es trotzdem geschieht,
so kann es nicht berechtigter-, sondern nur unberechtigterweise
geschehen, und diese gesetzwidrige Praxis ist nur mehr als
Tatsache, als zwar gegebene, aber irrationale Tatsache, von Be-
deutung.

Deshalb sind auch alle Versuche, die Berechtigung des
Gewohnheitsrechtes zu beweisen, fehlgeschlagen; und doch käme
es gerade darauf an. Man müßte die Berechtigung des Gewohn-
heitsrechtes im Verhältnis zum Gesetzesrecht beweisen.

Das Gewohnheitsrecht läßt sich aber in kein organisches Ver-
hältnis zum Gesetzesrecht bringen. Man kann sich dieses Ver-
hältnis als das der Unterordnung, der Nebenordnung oder der Über-
ordnung denken:

Nimmt man an, das Gewohnheitsrecht sei dem Gesetzesrecht
untergeordnet, d. h. es gelte nur, weil und soweit das Gesetz es
zulasse, so mutet man dem Gesetzgeber den Widerspruch zu, daß
er etwas befehle und etwas anderes erlaube; der Gesetzgeber kann
die Verbindlichkeit seiner Vorschrift nicht vom Urteil anderer
Personen abhängig machen; er kann nur, was er nicht selbst
ordnen oder abschließend ordnen will, dem Urteil der rechts-
anwendenden Behörden zu ergänzen überlassen. Dann gilt, was
zur Ergänzung des Gesetzesrechtes notwendig ist, allerdings nur,
so wie die rechtsanwendende Behörde es bestimmt; aber es gilt,
weil das Gesetz es zuläßt; und es ist, wie die Grundsätze der ge-
richtlichen oder behördlichen Rechtsprechung und Praxis über-

1 Schuppe a. a. O. 130.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0246" n="231"/>
            <fw place="top" type="header">Das Gewohnheitsrecht.</fw><lb/>
            <p>Wenn aber erst die Behörde durch ihr Verhalten Zweifel über<lb/>
das geltende Recht entstehen läßt, wie <hi rendition="#g">soll</hi> sie sich denn verhalten?<lb/>
Soll sie, <hi rendition="#g">bevor</hi> solche Zweifel möglich sind, vom Gesetz abweichen?<lb/>
Ist sie <hi rendition="#g">berechtigt,</hi> ein Gewohnheitsrecht, d. h. eben dem geltenden<lb/>
Gesetzesrecht widersprechendes Recht, zu schaffen? Die Frage<lb/>
stellen, heißt, sie beantworten. Wenn im Augenblick der <hi rendition="#g">ersten</hi><lb/>
Entscheidung (oder Entschließung zu positivem oder negativem<lb/>
Verhalten) noch kein Zweifel über die Geltung des gesetzten<lb/>
Rechtes aufkommen konnte, so mußte die Behörde dieses Recht,<lb/>
das einzig geltende Recht, auch zweifellos anwenden. <hi rendition="#g">Berechtigt,</hi><lb/>
etwas anderes zu tun, konnte die Behörde nicht sein, die eingesetzt<lb/>
ist, um das Gesetz anzuwenden<note place="foot" n="1"><hi rendition="#g">Schuppe</hi> a. a. O. 130.</note>. Wenn es trotzdem geschieht,<lb/>
so kann es nicht berechtigter-, sondern nur unberechtigterweise<lb/>
geschehen, und diese gesetzwidrige Praxis ist nur mehr als<lb/>
Tatsache, als zwar gegebene, aber irrationale Tatsache, von Be-<lb/>
deutung.</p><lb/>
            <p>Deshalb sind auch alle Versuche, die <hi rendition="#g">Berechtigung</hi> des<lb/>
Gewohnheitsrechtes zu beweisen, fehlgeschlagen; und doch käme<lb/>
es gerade darauf an. Man müßte die Berechtigung des Gewohn-<lb/>
heitsrechtes <hi rendition="#g">im Verhältnis zum Gesetzesrecht</hi> beweisen.</p><lb/>
            <p>Das Gewohnheitsrecht läßt sich aber in kein organisches Ver-<lb/>
hältnis zum Gesetzesrecht bringen. Man kann sich dieses Ver-<lb/>
hältnis als das der Unterordnung, der Nebenordnung oder der Über-<lb/>
ordnung denken:</p><lb/>
            <p>Nimmt man an, das Gewohnheitsrecht sei dem Gesetzesrecht<lb/>
untergeordnet, d. h. es gelte nur, weil und soweit das Gesetz es<lb/>
zulasse, so mutet man dem Gesetzgeber den Widerspruch zu, daß<lb/>
er etwas befehle und etwas anderes erlaube; der Gesetzgeber kann<lb/>
die Verbindlichkeit seiner Vorschrift nicht vom Urteil anderer<lb/>
Personen abhängig machen; er kann nur, was er nicht selbst<lb/>
ordnen oder abschließend ordnen will, dem Urteil der rechts-<lb/>
anwendenden Behörden zu ergänzen überlassen. Dann gilt, was<lb/>
zur Ergänzung des Gesetzesrechtes notwendig ist, allerdings nur,<lb/>
so wie die rechtsanwendende Behörde es bestimmt; aber es gilt,<lb/>
weil das Gesetz es zuläßt; und es ist, wie die Grundsätze der ge-<lb/>
richtlichen oder behördlichen Rechtsprechung und Praxis über-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[231/0246] Das Gewohnheitsrecht. Wenn aber erst die Behörde durch ihr Verhalten Zweifel über das geltende Recht entstehen läßt, wie soll sie sich denn verhalten? Soll sie, bevor solche Zweifel möglich sind, vom Gesetz abweichen? Ist sie berechtigt, ein Gewohnheitsrecht, d. h. eben dem geltenden Gesetzesrecht widersprechendes Recht, zu schaffen? Die Frage stellen, heißt, sie beantworten. Wenn im Augenblick der ersten Entscheidung (oder Entschließung zu positivem oder negativem Verhalten) noch kein Zweifel über die Geltung des gesetzten Rechtes aufkommen konnte, so mußte die Behörde dieses Recht, das einzig geltende Recht, auch zweifellos anwenden. Berechtigt, etwas anderes zu tun, konnte die Behörde nicht sein, die eingesetzt ist, um das Gesetz anzuwenden 1. Wenn es trotzdem geschieht, so kann es nicht berechtigter-, sondern nur unberechtigterweise geschehen, und diese gesetzwidrige Praxis ist nur mehr als Tatsache, als zwar gegebene, aber irrationale Tatsache, von Be- deutung. Deshalb sind auch alle Versuche, die Berechtigung des Gewohnheitsrechtes zu beweisen, fehlgeschlagen; und doch käme es gerade darauf an. Man müßte die Berechtigung des Gewohn- heitsrechtes im Verhältnis zum Gesetzesrecht beweisen. Das Gewohnheitsrecht läßt sich aber in kein organisches Ver- hältnis zum Gesetzesrecht bringen. Man kann sich dieses Ver- hältnis als das der Unterordnung, der Nebenordnung oder der Über- ordnung denken: Nimmt man an, das Gewohnheitsrecht sei dem Gesetzesrecht untergeordnet, d. h. es gelte nur, weil und soweit das Gesetz es zulasse, so mutet man dem Gesetzgeber den Widerspruch zu, daß er etwas befehle und etwas anderes erlaube; der Gesetzgeber kann die Verbindlichkeit seiner Vorschrift nicht vom Urteil anderer Personen abhängig machen; er kann nur, was er nicht selbst ordnen oder abschließend ordnen will, dem Urteil der rechts- anwendenden Behörden zu ergänzen überlassen. Dann gilt, was zur Ergänzung des Gesetzesrechtes notwendig ist, allerdings nur, so wie die rechtsanwendende Behörde es bestimmt; aber es gilt, weil das Gesetz es zuläßt; und es ist, wie die Grundsätze der ge- richtlichen oder behördlichen Rechtsprechung und Praxis über- 1 Schuppe a. a. O. 130.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/246
Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/246>, abgerufen am 24.11.2024.