Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Geltung des Rechts.
daß die von ihr aufgestellten Normen verbindlich sind; er kann
es folgerichtigerweise nicht bestreiten. Aber wenn er zum Beweis
der Verbindlichkeit der Gesetze (und in weiterer Ableitung: der
Verordnungen der Regierung) auf die Verfassung verweist, so ist
das keine endgültige Antwort: die Lösung ist nur um eine Stufe
zurückgeschoben; es frägt sich nun: gilt die Verfassung und warum
gilt sie. Und nach einer anderen Seite: wenn das Gesetz (und die
daraus abgeleitete Verordnung) kraft der verfassungsmäßigen
Zuständigkeit der gesetzgebenden Behörde gelten, gilt dann nur
dieses der Zuständigkeitsordnung gemäß gesetzte Recht? Gibt es
daneben kein anderes geltendes Recht? nämlich Gewohnheits-
recht; kann es keines geben? Und endlich: wenn es (wie heute)
mehrere solche Ordnungen und Staaten gibt, welches Recht gilt
unter ihnen? Mit anderen Worten: gerade die scheinbare Sicher-
heit der Geltung, der Verbindlichkeit des Gesetzesrechts führt
uns auf die weit weniger einfachen Fragen der Verbindlichkeit
des Verfassungsrechts und des Gewohnheitsrechts; und die Mehr-
heit der staatlichen Rechtsordnungen führt uns auf die noch
schwierigere Frage der Verbindlichkeit des Völkerrechts. Wieweit
die Frage nach der Verbindlichkeit dieser Normen "praktisch"
werde, ist zufällig und nebensächlich: es mag sein, daß niemand
die Verbindlichkeit der Verfassung eines Landes bestreitet, daß
jedermann dem Gewohnheitsrecht eines Landes und auch dem
Völkerrecht unserer Zeit die Geltung in ihrem sachlichen Bereiche
zugestehe; dann wird auch in der Praxis kein Streit entstehen.
Aber das ist ein Zufall: wenn Revolution ausbricht, wenn das
Gewohnheitsrecht mit dem Gesetz in Widerspruch tritt, wenn
Zweifel über die Grundsätze des "geltenden" Völkerrechts ent-
stehen (und das sind nicht erfundene Fälle), wird die Frage
praktisch und heischt Antwort. Wer will die Antwort dann geben?
Und auch, wenn nur ein unpraktischer Theoretiker auf diese
Zweifel stieße (was keineswegs der Fall ist), sollte er sie deshalb
nicht laut werden lassen? Wenn es eine Frage ist, ich meine:
wenn methodisches Denken auf die Frage führt, so muß sie ge-
stellt, und, wenn möglich, beantwortet werden1. Sie ist ja auch

1 Die Antwort ist z.B. theoretisch von Bedeutung für die Frage nach
der "Entstehung" des Rechts (vgl. oben S. 145 und unten S. 376); erst wenn

Die Geltung des Rechts.
daß die von ihr aufgestellten Normen verbindlich sind; er kann
es folgerichtigerweise nicht bestreiten. Aber wenn er zum Beweis
der Verbindlichkeit der Gesetze (und in weiterer Ableitung: der
Verordnungen der Regierung) auf die Verfassung verweist, so ist
das keine endgültige Antwort: die Lösung ist nur um eine Stufe
zurückgeschoben; es frägt sich nun: gilt die Verfassung und warum
gilt sie. Und nach einer anderen Seite: wenn das Gesetz (und die
daraus abgeleitete Verordnung) kraft der verfassungsmäßigen
Zuständigkeit der gesetzgebenden Behörde gelten, gilt dann nur
dieses der Zuständigkeitsordnung gemäß gesetzte Recht? Gibt es
daneben kein anderes geltendes Recht? nämlich Gewohnheits-
recht; kann es keines geben? Und endlich: wenn es (wie heute)
mehrere solche Ordnungen und Staaten gibt, welches Recht gilt
unter ihnen? Mit anderen Worten: gerade die scheinbare Sicher-
heit der Geltung, der Verbindlichkeit des Gesetzesrechts führt
uns auf die weit weniger einfachen Fragen der Verbindlichkeit
des Verfassungsrechts und des Gewohnheitsrechts; und die Mehr-
heit der staatlichen Rechtsordnungen führt uns auf die noch
schwierigere Frage der Verbindlichkeit des Völkerrechts. Wieweit
die Frage nach der Verbindlichkeit dieser Normen „praktisch“
werde, ist zufällig und nebensächlich: es mag sein, daß niemand
die Verbindlichkeit der Verfassung eines Landes bestreitet, daß
jedermann dem Gewohnheitsrecht eines Landes und auch dem
Völkerrecht unserer Zeit die Geltung in ihrem sachlichen Bereiche
zugestehe; dann wird auch in der Praxis kein Streit entstehen.
Aber das ist ein Zufall: wenn Revolution ausbricht, wenn das
Gewohnheitsrecht mit dem Gesetz in Widerspruch tritt, wenn
Zweifel über die Grundsätze des „geltenden“ Völkerrechts ent-
stehen (und das sind nicht erfundene Fälle), wird die Frage
praktisch und heischt Antwort. Wer will die Antwort dann geben?
Und auch, wenn nur ein unpraktischer Theoretiker auf diese
Zweifel stieße (was keineswegs der Fall ist), sollte er sie deshalb
nicht laut werden lassen? Wenn es eine Frage ist, ich meine:
wenn methodisches Denken auf die Frage führt, so muß sie ge-
stellt, und, wenn möglich, beantwortet werden1. Sie ist ja auch

1 Die Antwort ist z.B. theoretisch von Bedeutung für die Frage nach
der „Entstehung“ des Rechts (vgl. oben S. 145 und unten S. 376); erst wenn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0182" n="167"/><fw place="top" type="header">Die Geltung des Rechts.</fw><lb/>
daß die von ihr aufgestellten Normen verbindlich sind; er kann<lb/>
es folgerichtigerweise nicht bestreiten. Aber wenn er zum Beweis<lb/>
der Verbindlichkeit der Gesetze (und in weiterer Ableitung: der<lb/>
Verordnungen der Regierung) auf die Verfassung verweist, so ist<lb/>
das keine endgültige Antwort: die Lösung ist nur um eine Stufe<lb/>
zurückgeschoben; es frägt sich nun: gilt die Verfassung und warum<lb/>
gilt sie. Und nach einer anderen Seite: wenn das Gesetz (und die<lb/>
daraus abgeleitete Verordnung) kraft der verfassungsmäßigen<lb/>
Zuständigkeit der gesetzgebenden Behörde gelten, gilt dann <hi rendition="#g">nur</hi><lb/>
dieses der Zuständigkeitsordnung gemäß gesetzte Recht? Gibt es<lb/>
daneben kein anderes geltendes Recht? nämlich Gewohnheits-<lb/>
recht; kann es keines geben? Und endlich: wenn es (wie heute)<lb/>
mehrere solche Ordnungen und Staaten gibt, welches Recht gilt<lb/>
unter ihnen? Mit anderen Worten: gerade die scheinbare Sicher-<lb/>
heit der Geltung, der Verbindlichkeit des Gesetzesrechts führt<lb/>
uns auf die weit weniger einfachen Fragen der Verbindlichkeit<lb/>
des Verfassungsrechts und des Gewohnheitsrechts; und die Mehr-<lb/>
heit der staatlichen Rechtsordnungen führt uns auf die noch<lb/>
schwierigere Frage der Verbindlichkeit des Völkerrechts. Wieweit<lb/>
die Frage nach der Verbindlichkeit dieser Normen &#x201E;praktisch&#x201C;<lb/>
werde, ist zufällig und nebensächlich: es mag sein, daß niemand<lb/>
die Verbindlichkeit der Verfassung eines Landes bestreitet, daß<lb/>
jedermann dem Gewohnheitsrecht eines Landes und auch dem<lb/>
Völkerrecht unserer Zeit die Geltung in ihrem sachlichen Bereiche<lb/>
zugestehe; dann wird auch in der Praxis kein Streit entstehen.<lb/>
Aber das ist ein Zufall: wenn Revolution ausbricht, wenn das<lb/>
Gewohnheitsrecht mit dem Gesetz in Widerspruch tritt, wenn<lb/>
Zweifel über die Grundsätze des &#x201E;geltenden&#x201C; Völkerrechts ent-<lb/>
stehen (und das sind nicht erfundene Fälle), wird die Frage<lb/>
praktisch und heischt Antwort. Wer will die Antwort dann geben?<lb/>
Und auch, wenn nur ein unpraktischer Theoretiker auf diese<lb/>
Zweifel stieße (was keineswegs der Fall ist), sollte er sie deshalb<lb/>
nicht laut werden lassen? Wenn es eine Frage <hi rendition="#g">ist,</hi> ich meine:<lb/>
wenn methodisches Denken auf die Frage führt, so muß sie ge-<lb/>
stellt, und, wenn möglich, beantwortet werden<note xml:id="seg2pn_24_1" next="#seg2pn_24_2" place="foot" n="1">Die Antwort ist z.B. theoretisch von Bedeutung für die Frage nach<lb/>
der &#x201E;Entstehung&#x201C; des Rechts (vgl. oben S. 145 und unten S. 376); erst wenn</note>. Sie ist ja auch<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[167/0182] Die Geltung des Rechts. daß die von ihr aufgestellten Normen verbindlich sind; er kann es folgerichtigerweise nicht bestreiten. Aber wenn er zum Beweis der Verbindlichkeit der Gesetze (und in weiterer Ableitung: der Verordnungen der Regierung) auf die Verfassung verweist, so ist das keine endgültige Antwort: die Lösung ist nur um eine Stufe zurückgeschoben; es frägt sich nun: gilt die Verfassung und warum gilt sie. Und nach einer anderen Seite: wenn das Gesetz (und die daraus abgeleitete Verordnung) kraft der verfassungsmäßigen Zuständigkeit der gesetzgebenden Behörde gelten, gilt dann nur dieses der Zuständigkeitsordnung gemäß gesetzte Recht? Gibt es daneben kein anderes geltendes Recht? nämlich Gewohnheits- recht; kann es keines geben? Und endlich: wenn es (wie heute) mehrere solche Ordnungen und Staaten gibt, welches Recht gilt unter ihnen? Mit anderen Worten: gerade die scheinbare Sicher- heit der Geltung, der Verbindlichkeit des Gesetzesrechts führt uns auf die weit weniger einfachen Fragen der Verbindlichkeit des Verfassungsrechts und des Gewohnheitsrechts; und die Mehr- heit der staatlichen Rechtsordnungen führt uns auf die noch schwierigere Frage der Verbindlichkeit des Völkerrechts. Wieweit die Frage nach der Verbindlichkeit dieser Normen „praktisch“ werde, ist zufällig und nebensächlich: es mag sein, daß niemand die Verbindlichkeit der Verfassung eines Landes bestreitet, daß jedermann dem Gewohnheitsrecht eines Landes und auch dem Völkerrecht unserer Zeit die Geltung in ihrem sachlichen Bereiche zugestehe; dann wird auch in der Praxis kein Streit entstehen. Aber das ist ein Zufall: wenn Revolution ausbricht, wenn das Gewohnheitsrecht mit dem Gesetz in Widerspruch tritt, wenn Zweifel über die Grundsätze des „geltenden“ Völkerrechts ent- stehen (und das sind nicht erfundene Fälle), wird die Frage praktisch und heischt Antwort. Wer will die Antwort dann geben? Und auch, wenn nur ein unpraktischer Theoretiker auf diese Zweifel stieße (was keineswegs der Fall ist), sollte er sie deshalb nicht laut werden lassen? Wenn es eine Frage ist, ich meine: wenn methodisches Denken auf die Frage führt, so muß sie ge- stellt, und, wenn möglich, beantwortet werden 1. Sie ist ja auch 1 Die Antwort ist z.B. theoretisch von Bedeutung für die Frage nach der „Entstehung“ des Rechts (vgl. oben S. 145 und unten S. 376); erst wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/182
Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/182>, abgerufen am 05.05.2024.