tigung jenes Vorgehens bestreiten könnte1. Wenn der Staat seinen Zwang einsetzen will, muß er sich auch über die Berechtigung der zu erzwingenden Anordnung ausweisen. Es soll behufs Ver- meidung privater, willkürlicher Gewalt die staatliche Gewalt einschreiten; der Staat soll Gewalt anwenden, er allein; aber es ist unentschieden geblieben, für was er sie einsetzen soll, da er, mangels einer Verhaltungsnorm, das Verhalten der Beteiligten in concreto nicht bestimmen konnte. Darin liegt der Widerspruch.
Auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts ist aber das Primäre für das Einschreiten des Staates nicht der Streit der Privaten; denn Private können die öffentlich-rechtlichen Verhaltungs- normen nicht "bestreiten". Der Grund des Einschreitens ist viel- mehr die Verhaltungsnorm selbst; um den zwingenden Befehl der Norm durchzusetzen, setzt der Staat seinen Zwangsapparat in Bewegung; nur dann, wenn eine (zwingende) Norm durchzu- setzen ist und dieser Norm wegen. Die Polizei kann einen Gewerbe- betrieb erst schließen, wenn sie weiß, daß er polizeiwidrig ist; die Strafvollstreckungsbehörde weiß erst, daß sie einen Mann einzusperren hat, wenn sie weiß, daß er ein mit Freiheitsstrafe be- drohtes Verbrechen begangen hat; die Vollziehungsbehörde ex- equiert erst in das Vermögen, wenn sie weiß, daß der Exekut eine Steuer zu bezahlen hat. Ob eine solche Norm besteht, kann aller- dings (nach positivem Recht) zweifelhaft sein; ob es z. B. ver- boten ist, die Öffentlichkeit durch falsche Nachrichten zu beun- ruhigen oder alte Briefmarken nachzumachen. Aber dann ist auch die Anwendung des Zwanges zweifelhaft; und daß der Staat mit Gewalt gegen solches Gebahren einschreiten soll, ist erst aus- gemacht, wenn feststeht, daß das Gebahren rechtswidrig ist; im Gegensatz zum Privatrecht, wo von vornherein feststeht, daß der Staat privaten Streit und private Gewalt verhindern muß, bevor feststeht, welchem Grundsatz er seinen Arm leihen soll; weshalb eben der Richter diesen Grundsatz finden muß, wenn er ihm nicht gegeben ist, sobald unter Privaten Streit herrscht. Steht im öffentlichen Recht die materielle Norm aber fest, so muß sie folgerichtigerweise auch erzwungen werden; denn es wäre ein Widerspruch, eine Norm als zwingende aufzustellen, d. h. eben als
1 Und der Staat selbst den Zwang nur einsetzen kann zur Durch- setzung erkannten Rechts, wie unten S. 236, 280 noch auszuführen ist.
Die Lücken des Gesetzes.
tigung jenes Vorgehens bestreiten könnte1. Wenn der Staat seinen Zwang einsetzen will, muß er sich auch über die Berechtigung der zu erzwingenden Anordnung ausweisen. Es soll behufs Ver- meidung privater, willkürlicher Gewalt die staatliche Gewalt einschreiten; der Staat soll Gewalt anwenden, er allein; aber es ist unentschieden geblieben, für was er sie einsetzen soll, da er, mangels einer Verhaltungsnorm, das Verhalten der Beteiligten in concreto nicht bestimmen konnte. Darin liegt der Widerspruch.
Auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts ist aber das Primäre für das Einschreiten des Staates nicht der Streit der Privaten; denn Private können die öffentlich-rechtlichen Verhaltungs- normen nicht „bestreiten“. Der Grund des Einschreitens ist viel- mehr die Verhaltungsnorm selbst; um den zwingenden Befehl der Norm durchzusetzen, setzt der Staat seinen Zwangsapparat in Bewegung; nur dann, wenn eine (zwingende) Norm durchzu- setzen ist und dieser Norm wegen. Die Polizei kann einen Gewerbe- betrieb erst schließen, wenn sie weiß, daß er polizeiwidrig ist; die Strafvollstreckungsbehörde weiß erst, daß sie einen Mann einzusperren hat, wenn sie weiß, daß er ein mit Freiheitsstrafe be- drohtes Verbrechen begangen hat; die Vollziehungsbehörde ex- equiert erst in das Vermögen, wenn sie weiß, daß der Exekut eine Steuer zu bezahlen hat. Ob eine solche Norm besteht, kann aller- dings (nach positivem Recht) zweifelhaft sein; ob es z. B. ver- boten ist, die Öffentlichkeit durch falsche Nachrichten zu beun- ruhigen oder alte Briefmarken nachzumachen. Aber dann ist auch die Anwendung des Zwanges zweifelhaft; und daß der Staat mit Gewalt gegen solches Gebahren einschreiten soll, ist erst aus- gemacht, wenn feststeht, daß das Gebahren rechtswidrig ist; im Gegensatz zum Privatrecht, wo von vornherein feststeht, daß der Staat privaten Streit und private Gewalt verhindern muß, bevor feststeht, welchem Grundsatz er seinen Arm leihen soll; weshalb eben der Richter diesen Grundsatz finden muß, wenn er ihm nicht gegeben ist, sobald unter Privaten Streit herrscht. Steht im öffentlichen Recht die materielle Norm aber fest, so muß sie folgerichtigerweise auch erzwungen werden; denn es wäre ein Widerspruch, eine Norm als zwingende aufzustellen, d. h. eben als
1 Und der Staat selbst den Zwang nur einsetzen kann zur Durch- setzung erkannten Rechts, wie unten S. 236, 280 noch auszuführen ist.
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[115/0130]
Die Lücken des Gesetzes.
tigung jenes Vorgehens bestreiten könnte 1. Wenn der Staat seinen
Zwang einsetzen will, muß er sich auch über die Berechtigung
der zu erzwingenden Anordnung ausweisen. Es soll behufs Ver-
meidung privater, willkürlicher Gewalt die staatliche Gewalt
einschreiten; der Staat soll Gewalt anwenden, er allein; aber es
ist unentschieden geblieben, für was er sie einsetzen soll, da er,
mangels einer Verhaltungsnorm, das Verhalten der Beteiligten in
concreto nicht bestimmen konnte. Darin liegt der Widerspruch.
Auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts ist aber das Primäre
für das Einschreiten des Staates nicht der Streit der Privaten;
denn Private können die öffentlich-rechtlichen Verhaltungs-
normen nicht „bestreiten“. Der Grund des Einschreitens ist viel-
mehr die Verhaltungsnorm selbst; um den zwingenden Befehl
der Norm durchzusetzen, setzt der Staat seinen Zwangsapparat
in Bewegung; nur dann, wenn eine (zwingende) Norm durchzu-
setzen ist und dieser Norm wegen. Die Polizei kann einen Gewerbe-
betrieb erst schließen, wenn sie weiß, daß er polizeiwidrig ist;
die Strafvollstreckungsbehörde weiß erst, daß sie einen Mann
einzusperren hat, wenn sie weiß, daß er ein mit Freiheitsstrafe be-
drohtes Verbrechen begangen hat; die Vollziehungsbehörde ex-
equiert erst in das Vermögen, wenn sie weiß, daß der Exekut eine
Steuer zu bezahlen hat. Ob eine solche Norm besteht, kann aller-
dings (nach positivem Recht) zweifelhaft sein; ob es z. B. ver-
boten ist, die Öffentlichkeit durch falsche Nachrichten zu beun-
ruhigen oder alte Briefmarken nachzumachen. Aber dann ist auch
die Anwendung des Zwanges zweifelhaft; und daß der Staat mit
Gewalt gegen solches Gebahren einschreiten soll, ist erst aus-
gemacht, wenn feststeht, daß das Gebahren rechtswidrig ist; im
Gegensatz zum Privatrecht, wo von vornherein feststeht, daß der
Staat privaten Streit und private Gewalt verhindern muß, bevor
feststeht, welchem Grundsatz er seinen Arm leihen soll; weshalb
eben der Richter diesen Grundsatz finden muß, wenn er ihm
nicht gegeben ist, sobald unter Privaten Streit herrscht. Steht
im öffentlichen Recht die materielle Norm aber fest, so muß sie
folgerichtigerweise auch erzwungen werden; denn es wäre ein
Widerspruch, eine Norm als zwingende aufzustellen, d. h. eben als
1 Und der Staat selbst den Zwang nur einsetzen kann zur Durch-
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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/130>, abgerufen am 16.07.2024.
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