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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Coreggio.
lichen und zuvorkommenden Einwohner willen, die das schlechteste
Strassenpflaster von Italien wohl vergessen zu machen im Stande sind.

Innerlich so frei von allen kirchlichen Prämissen, wie Michelan-
gelo, hat Coreggio in seiner Kunst nie etwas anderes als das Mittel
gesehen, das Leben so sinnlich reizend und so sinnlich überzeugend
als möglich darzustellen. Er war hiefür gewaltig begabt; in Allem,
was zur Wirklichmachung dient, ist er Begründer und Entdecker
selbst im Vergleich mit Lionardo und Tizian.

Allein in der höhern Malerei verlangen wir nicht das Wirkliche,
sondern das Wahre. Wir kommen ihr mit einem offenen Herzen ent-
gegen und wollen nur an das Beste in uns erinnert sein, dessen be-
lebte Gestalt wir von ihr erwarten. Coreggio gewährt diess nicht;
das Anschauen seiner Werke wird darob wohl zu einem unaufhörli-
chen Protestiren; man ist versucht sich zu sagen: "als Künstler hättest
du dieses Alles höher zu fassen vermocht." Vollständig fehlt das sitt-
lich Erhebende; wenn diese Gestalten lebendig würden, was hätte
man an ihnen? welches ist diejenige Gattung von Lebensäusserun-
gen, welche man ihnen vorzugsweise zutrauen würde?

Aber das Wirkliche hat in der Kunst eine grosse Gewalt. Selbst
wo sie das Geringe und Zufällige, ja das Gemeine mit allen Mitteln
der Realität darstellt, übt dasselbe einen zwingenden Zauber, wenn
auch von widriger Art. Handelt es sich aber um das sinnlich Rei-
zende, so erhöht sich dieser Zauber unendlich und berührt uns dä-
monisch. Wir brauchten dieses Wort bei Michelangelo's Postulat
einer physisch erhöhten Menschenwelt; mit ganz entgegengesetzten
Mitteln bringt Coreggio eine Wirkung hervor, die wiederum nicht an-
ders zu bezeichnen ist. Er zuerst stellt in seinen Scenen den Na-
turmoment
vollständig und vollkommen dar. Das Zwingende liegt
nicht in dieser oder jener schönen und buhlerischen Form, sondern
darin, dass für die Existenz dieser Form eine unbedingte Überzeu-
gung in dem Beschauer hervorgebracht wird vermöge der vollkom-
men wirklichen (und durch versteckte Reizmittel erhöhten) Mitdar-
stellung von Raum und Licht.

Unter seinen Darstellungsmitteln ist das Helldunkel sprichwört-
lich berühmt. Das ganze XV. Jahrh. zeigt eine Menge einzelner Versuche
dieser Art, allein bloss mit dem Zweck, das Einzelne möglichst vollständig

Coreggio.
lichen und zuvorkommenden Einwohner willen, die das schlechteste
Strassenpflaster von Italien wohl vergessen zu machen im Stande sind.

Innerlich so frei von allen kirchlichen Prämissen, wie Michelan-
gelo, hat Coreggio in seiner Kunst nie etwas anderes als das Mittel
gesehen, das Leben so sinnlich reizend und so sinnlich überzeugend
als möglich darzustellen. Er war hiefür gewaltig begabt; in Allem,
was zur Wirklichmachung dient, ist er Begründer und Entdecker
selbst im Vergleich mit Lionardo und Tizian.

Allein in der höhern Malerei verlangen wir nicht das Wirkliche,
sondern das Wahre. Wir kommen ihr mit einem offenen Herzen ent-
gegen und wollen nur an das Beste in uns erinnert sein, dessen be-
lebte Gestalt wir von ihr erwarten. Coreggio gewährt diess nicht;
das Anschauen seiner Werke wird darob wohl zu einem unaufhörli-
chen Protestiren; man ist versucht sich zu sagen: „als Künstler hättest
du dieses Alles höher zu fassen vermocht.“ Vollständig fehlt das sitt-
lich Erhebende; wenn diese Gestalten lebendig würden, was hätte
man an ihnen? welches ist diejenige Gattung von Lebensäusserun-
gen, welche man ihnen vorzugsweise zutrauen würde?

Aber das Wirkliche hat in der Kunst eine grosse Gewalt. Selbst
wo sie das Geringe und Zufällige, ja das Gemeine mit allen Mitteln
der Realität darstellt, übt dasselbe einen zwingenden Zauber, wenn
auch von widriger Art. Handelt es sich aber um das sinnlich Rei-
zende, so erhöht sich dieser Zauber unendlich und berührt uns dä-
monisch. Wir brauchten dieses Wort bei Michelangelo’s Postulat
einer physisch erhöhten Menschenwelt; mit ganz entgegengesetzten
Mitteln bringt Coreggio eine Wirkung hervor, die wiederum nicht an-
ders zu bezeichnen ist. Er zuerst stellt in seinen Scenen den Na-
turmoment
vollständig und vollkommen dar. Das Zwingende liegt
nicht in dieser oder jener schönen und buhlerischen Form, sondern
darin, dass für die Existenz dieser Form eine unbedingte Überzeu-
gung in dem Beschauer hervorgebracht wird vermöge der vollkom-
men wirklichen (und durch versteckte Reizmittel erhöhten) Mitdar-
stellung von Raum und Licht.

Unter seinen Darstellungsmitteln ist das Helldunkel sprichwört-
lich berühmt. Das ganze XV. Jahrh. zeigt eine Menge einzelner Versuche
dieser Art, allein bloss mit dem Zweck, das Einzelne möglichst vollständig

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[951/0973] Coreggio. lichen und zuvorkommenden Einwohner willen, die das schlechteste Strassenpflaster von Italien wohl vergessen zu machen im Stande sind. Innerlich so frei von allen kirchlichen Prämissen, wie Michelan- gelo, hat Coreggio in seiner Kunst nie etwas anderes als das Mittel gesehen, das Leben so sinnlich reizend und so sinnlich überzeugend als möglich darzustellen. Er war hiefür gewaltig begabt; in Allem, was zur Wirklichmachung dient, ist er Begründer und Entdecker selbst im Vergleich mit Lionardo und Tizian. Allein in der höhern Malerei verlangen wir nicht das Wirkliche, sondern das Wahre. Wir kommen ihr mit einem offenen Herzen ent- gegen und wollen nur an das Beste in uns erinnert sein, dessen be- lebte Gestalt wir von ihr erwarten. Coreggio gewährt diess nicht; das Anschauen seiner Werke wird darob wohl zu einem unaufhörli- chen Protestiren; man ist versucht sich zu sagen: „als Künstler hättest du dieses Alles höher zu fassen vermocht.“ Vollständig fehlt das sitt- lich Erhebende; wenn diese Gestalten lebendig würden, was hätte man an ihnen? welches ist diejenige Gattung von Lebensäusserun- gen, welche man ihnen vorzugsweise zutrauen würde? Aber das Wirkliche hat in der Kunst eine grosse Gewalt. Selbst wo sie das Geringe und Zufällige, ja das Gemeine mit allen Mitteln der Realität darstellt, übt dasselbe einen zwingenden Zauber, wenn auch von widriger Art. Handelt es sich aber um das sinnlich Rei- zende, so erhöht sich dieser Zauber unendlich und berührt uns dä- monisch. Wir brauchten dieses Wort bei Michelangelo’s Postulat einer physisch erhöhten Menschenwelt; mit ganz entgegengesetzten Mitteln bringt Coreggio eine Wirkung hervor, die wiederum nicht an- ders zu bezeichnen ist. Er zuerst stellt in seinen Scenen den Na- turmoment vollständig und vollkommen dar. Das Zwingende liegt nicht in dieser oder jener schönen und buhlerischen Form, sondern darin, dass für die Existenz dieser Form eine unbedingte Überzeu- gung in dem Beschauer hervorgebracht wird vermöge der vollkom- men wirklichen (und durch versteckte Reizmittel erhöhten) Mitdar- stellung von Raum und Licht. Unter seinen Darstellungsmitteln ist das Helldunkel sprichwört- lich berühmt. Das ganze XV. Jahrh. zeigt eine Menge einzelner Versuche dieser Art, allein bloss mit dem Zweck, das Einzelne möglichst vollständig

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 951. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/973>, abgerufen am 18.07.2024.