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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des XVI. Jahrhunderts. Rafael.

Die Action, welche diese Bilder beseelt, ist allerdings nur die
Sache des grössten Künstlers. Allein man muthete ihm innerhalb sei-
nes Thema's auch nicht das Unmögliche zu, wie z. B. die geistige
Gemeinschaft eines Gelehrtencongresses, einer Maleracademie oder
überhaupt solcher Personen, deren charakteristische Thätigkeit gar nie
gemeinsam vor sich geht, und die, wenn man sie beisammen malt,
immer auf das Diner zu warten scheinen. In der Disputa gab R.
nicht etwa ein Concilium, sondern ein geistiger Drang hat die gröss-
ten Lehrer göttlicher Dinge rasch zusammengeführt, so dass sie um
den Altar herum nur eben Platz genommen haben; mit ihnen namen-
lose Laien, die der Geist auf dem Wege ergriffen und mit hergezogen
hat; diese bilden den so nothwendigen passiven Theil, in welchem das
von den Kirchenlehrern erkannte Mysterium sich bloss als Ahnung
und Aufregung reflectirt. Dass der obere Halbkreis der Seligen (eine
verherrlichte Umbildung desjenigen von S. Severo) dem untern so
völlig als Contrast entspricht, ist der einfach erhabene Ausdruck des
Verhältnisses, in welchem die himmlische Welt die irdische über-
schattet. Endlich imponirt hier im höchsten Grade die kirchliche Idee;
es ist kein Bild von neutraler Schönheit, sondern ein gewaltiger In-
begriff des mittelalterlichen Glaubens.

Den Gegensatz dazu bildet die Schule von Athen, ohne himm-
lische Gruppe, ohne Mysterium. Oder ist die wunderschöne Halle,
welche den Hintergrund ausmacht, nicht bloss ein malerischer Ge-
danke, sondern ein bewusstes Symbol gesunder Harmonie der Geistes-
und Seelenkräfte? Man würde sich in einem solchen Gebäude so wohl
fühlen! -- Wie dem nun sei, Rafael hat das ganze Denken und Wis-
sen des Alterthums in lauter lebendige Demonstration und in eifriges
Zuhören übersetzt; die wenigen isolirten Figuren, wie der Skeptiker
und Diogenes der Cyniker, sollen eben als Ausnahmen contrastiren.
Dass die rechnenden Wissenschaften den Vordergrund unterhalb der
Stufen einnehmen, ist wieder einer jener ganz einfachen genialen Ge-
danken, die sich von selbst zu verstehen scheinen. Trefflichste Ver-
theilung der Lehrenden und der Zuhörenden und Zuschauenden, leichte
Bewegung im Raum, Reichthum ohne Gedränge, völliges Zusammen-
fallen der malerischen und dramatischen Motive. (Wichtiger Carton
ain der Ambrosiana zu Mailand.)

Malerei des XVI. Jahrhunderts. Rafael.

Die Action, welche diese Bilder beseelt, ist allerdings nur die
Sache des grössten Künstlers. Allein man muthete ihm innerhalb sei-
nes Thema’s auch nicht das Unmögliche zu, wie z. B. die geistige
Gemeinschaft eines Gelehrtencongresses, einer Maleracademie oder
überhaupt solcher Personen, deren charakteristische Thätigkeit gar nie
gemeinsam vor sich geht, und die, wenn man sie beisammen malt,
immer auf das Diner zu warten scheinen. In der Disputa gab R.
nicht etwa ein Concilium, sondern ein geistiger Drang hat die gröss-
ten Lehrer göttlicher Dinge rasch zusammengeführt, so dass sie um
den Altar herum nur eben Platz genommen haben; mit ihnen namen-
lose Laien, die der Geist auf dem Wege ergriffen und mit hergezogen
hat; diese bilden den so nothwendigen passiven Theil, in welchem das
von den Kirchenlehrern erkannte Mysterium sich bloss als Ahnung
und Aufregung reflectirt. Dass der obere Halbkreis der Seligen (eine
verherrlichte Umbildung desjenigen von S. Severo) dem untern so
völlig als Contrast entspricht, ist der einfach erhabene Ausdruck des
Verhältnisses, in welchem die himmlische Welt die irdische über-
schattet. Endlich imponirt hier im höchsten Grade die kirchliche Idee;
es ist kein Bild von neutraler Schönheit, sondern ein gewaltiger In-
begriff des mittelalterlichen Glaubens.

Den Gegensatz dazu bildet die Schule von Athen, ohne himm-
lische Gruppe, ohne Mysterium. Oder ist die wunderschöne Halle,
welche den Hintergrund ausmacht, nicht bloss ein malerischer Ge-
danke, sondern ein bewusstes Symbol gesunder Harmonie der Geistes-
und Seelenkräfte? Man würde sich in einem solchen Gebäude so wohl
fühlen! — Wie dem nun sei, Rafael hat das ganze Denken und Wis-
sen des Alterthums in lauter lebendige Demonstration und in eifriges
Zuhören übersetzt; die wenigen isolirten Figuren, wie der Skeptiker
und Diogenes der Cyniker, sollen eben als Ausnahmen contrastiren.
Dass die rechnenden Wissenschaften den Vordergrund unterhalb der
Stufen einnehmen, ist wieder einer jener ganz einfachen genialen Ge-
danken, die sich von selbst zu verstehen scheinen. Trefflichste Ver-
theilung der Lehrenden und der Zuhörenden und Zuschauenden, leichte
Bewegung im Raum, Reichthum ohne Gedränge, völliges Zusammen-
fallen der malerischen und dramatischen Motive. (Wichtiger Carton
ain der Ambrosiana zu Mailand.)

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[914/0936] Malerei des XVI. Jahrhunderts. Rafael. Die Action, welche diese Bilder beseelt, ist allerdings nur die Sache des grössten Künstlers. Allein man muthete ihm innerhalb sei- nes Thema’s auch nicht das Unmögliche zu, wie z. B. die geistige Gemeinschaft eines Gelehrtencongresses, einer Maleracademie oder überhaupt solcher Personen, deren charakteristische Thätigkeit gar nie gemeinsam vor sich geht, und die, wenn man sie beisammen malt, immer auf das Diner zu warten scheinen. In der Disputa gab R. nicht etwa ein Concilium, sondern ein geistiger Drang hat die gröss- ten Lehrer göttlicher Dinge rasch zusammengeführt, so dass sie um den Altar herum nur eben Platz genommen haben; mit ihnen namen- lose Laien, die der Geist auf dem Wege ergriffen und mit hergezogen hat; diese bilden den so nothwendigen passiven Theil, in welchem das von den Kirchenlehrern erkannte Mysterium sich bloss als Ahnung und Aufregung reflectirt. Dass der obere Halbkreis der Seligen (eine verherrlichte Umbildung desjenigen von S. Severo) dem untern so völlig als Contrast entspricht, ist der einfach erhabene Ausdruck des Verhältnisses, in welchem die himmlische Welt die irdische über- schattet. Endlich imponirt hier im höchsten Grade die kirchliche Idee; es ist kein Bild von neutraler Schönheit, sondern ein gewaltiger In- begriff des mittelalterlichen Glaubens. Den Gegensatz dazu bildet die Schule von Athen, ohne himm- lische Gruppe, ohne Mysterium. Oder ist die wunderschöne Halle, welche den Hintergrund ausmacht, nicht bloss ein malerischer Ge- danke, sondern ein bewusstes Symbol gesunder Harmonie der Geistes- und Seelenkräfte? Man würde sich in einem solchen Gebäude so wohl fühlen! — Wie dem nun sei, Rafael hat das ganze Denken und Wis- sen des Alterthums in lauter lebendige Demonstration und in eifriges Zuhören übersetzt; die wenigen isolirten Figuren, wie der Skeptiker und Diogenes der Cyniker, sollen eben als Ausnahmen contrastiren. Dass die rechnenden Wissenschaften den Vordergrund unterhalb der Stufen einnehmen, ist wieder einer jener ganz einfachen genialen Ge- danken, die sich von selbst zu verstehen scheinen. Trefflichste Ver- theilung der Lehrenden und der Zuhörenden und Zuschauenden, leichte Bewegung im Raum, Reichthum ohne Gedränge, völliges Zusammen- fallen der malerischen und dramatischen Motive. (Wichtiger Carton in der Ambrosiana zu Mailand.) a

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 914. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/936>, abgerufen am 18.12.2024.