mal im vorigen Jahrh., thaten das Übrige. Doch soll nach neuesten Nachrichten wieder einige Hoffnung vorhanden sein, bei deren Weg- nahme gut erhaltene originale Theile zu Tage fördern zu können. -- Unter solchen Umständen haben alte Wiederholungen einen besondern Werth. (Sie sind, hauptsächlich in der Nähe von Mailand, sehr zahl- reich; eine z. B. in der Ambrosiana; eine Zurückübersetzung in dena ältern lombardischen Styl, von Araldi, S. 820, h, in der Galerie vonb Parma.) Von den noch hie und da (vorzüglich in Weimar!) erhaltenen Originalentwürfen L.'s zu einzelnen Köpfen gilt der Christuskopf inc der Brera als unzweifelhaft. -- Das Gemälde selbst gewährt noch als Ruine Aufklärungen, die sich weder aus Morghen's Stich noch aus Bossi's Nachbild entnehmen lassen; abgesehen von dem allgemeinen Ton des Lichtes und der Farben, der noch keineswegs verschwunden ist, wird man nur hier den wahren Massstab, in welchem diese Ge- stalten gedacht sind, die Örtlichkeit und die Beleuchtung kennen ler- nen, vielleicht auch noch den Schimmer der Originalität, den nichts ersetzen kann, über dem Ganzen schwebend finden.
Die Scene, welche von der christlichen Kunst unter dem Namen des Abendmahls, hauptsächlich als Wandbild in Klosterrefectorien, dargestellt worden ist, enthält zwei ganz verschiedene Momente, beide von jeher und von grossen Künstlern behandelt. Der eine ist die Einsetzung des Sacramentes (eigenthümlich bei Signorelli, S. 809, b). Der andere Moment ist das "Unus vestrum"; Christus spricht die Ge- wissheit des Verrathes aus. Auch hier kann wieder, nach den Wor- ten der Schrift, entweder die Kenntlichmachung des Verräthers durch gleichzeitiges Ergreifen des einzutauchenden Bissens (wie bei Andrea del Sarto, s. unten, Kloster S. Salvi), oder das blosse schmerzliche Wort Christi das entscheidende Motiv sein. Letzteres bei Lionardo. -- Die Kunst hat kaum einen bedenklichern Gegenstand als diesen, die Wirkung eines Wortes auf eine sitzende Versammlung. Nur ein Strahl, in zwölfmaligem Reflex. Würde aber der geistige Inhalt da- bei gewinnen, wenn die Zwölfe, leidenschaftlich bewegt, ihre Plätze verliessen, um reichere Gruppen, grössere dramatische Gegensätze zu bilden? Die Hauptsache, nämlich die Herrschaft der Hauptfigur, welche doch nur sitzen und sprechen dürfte, ginge ob dem Handeln der Übrigen unvermeidlich verloren. Selbst der gedeckte Tisch, der
B. Cicerone. 55
Abendmahl von S. M. delle Grazie.
mal im vorigen Jahrh., thaten das Übrige. Doch soll nach neuesten Nachrichten wieder einige Hoffnung vorhanden sein, bei deren Weg- nahme gut erhaltene originale Theile zu Tage fördern zu können. — Unter solchen Umständen haben alte Wiederholungen einen besondern Werth. (Sie sind, hauptsächlich in der Nähe von Mailand, sehr zahl- reich; eine z. B. in der Ambrosiana; eine Zurückübersetzung in dena ältern lombardischen Styl, von Araldi, S. 820, h, in der Galerie vonb Parma.) Von den noch hie und da (vorzüglich in Weimar!) erhaltenen Originalentwürfen L.’s zu einzelnen Köpfen gilt der Christuskopf inc der Brera als unzweifelhaft. — Das Gemälde selbst gewährt noch als Ruine Aufklärungen, die sich weder aus Morghen’s Stich noch aus Bossi’s Nachbild entnehmen lassen; abgesehen von dem allgemeinen Ton des Lichtes und der Farben, der noch keineswegs verschwunden ist, wird man nur hier den wahren Massstab, in welchem diese Ge- stalten gedacht sind, die Örtlichkeit und die Beleuchtung kennen ler- nen, vielleicht auch noch den Schimmer der Originalität, den nichts ersetzen kann, über dem Ganzen schwebend finden.
Die Scene, welche von der christlichen Kunst unter dem Namen des Abendmahls, hauptsächlich als Wandbild in Klosterrefectorien, dargestellt worden ist, enthält zwei ganz verschiedene Momente, beide von jeher und von grossen Künstlern behandelt. Der eine ist die Einsetzung des Sacramentes (eigenthümlich bei Signorelli, S. 809, b). Der andere Moment ist das „Unus vestrum“; Christus spricht die Ge- wissheit des Verrathes aus. Auch hier kann wieder, nach den Wor- ten der Schrift, entweder die Kenntlichmachung des Verräthers durch gleichzeitiges Ergreifen des einzutauchenden Bissens (wie bei Andrea del Sarto, s. unten, Kloster S. Salvi), oder das blosse schmerzliche Wort Christi das entscheidende Motiv sein. Letzteres bei Lionardo. — Die Kunst hat kaum einen bedenklichern Gegenstand als diesen, die Wirkung eines Wortes auf eine sitzende Versammlung. Nur ein Strahl, in zwölfmaligem Reflex. Würde aber der geistige Inhalt da- bei gewinnen, wenn die Zwölfe, leidenschaftlich bewegt, ihre Plätze verliessen, um reichere Gruppen, grössere dramatische Gegensätze zu bilden? Die Hauptsache, nämlich die Herrschaft der Hauptfigur, welche doch nur sitzen und sprechen dürfte, ginge ob dem Handeln der Übrigen unvermeidlich verloren. Selbst der gedeckte Tisch, der
B. Cicerone. 55
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Abendmahl von S. M. delle Grazie.
mal im vorigen Jahrh., thaten das Übrige. Doch soll nach neuesten
Nachrichten wieder einige Hoffnung vorhanden sein, bei deren Weg-
nahme gut erhaltene originale Theile zu Tage fördern zu können. —
Unter solchen Umständen haben alte Wiederholungen einen besondern
Werth. (Sie sind, hauptsächlich in der Nähe von Mailand, sehr zahl-
reich; eine z. B. in der Ambrosiana; eine Zurückübersetzung in den
ältern lombardischen Styl, von Araldi, S. 820, h, in der Galerie von
Parma.) Von den noch hie und da (vorzüglich in Weimar!) erhaltenen
Originalentwürfen L.’s zu einzelnen Köpfen gilt der Christuskopf in
der Brera als unzweifelhaft. — Das Gemälde selbst gewährt noch als
Ruine Aufklärungen, die sich weder aus Morghen’s Stich noch aus
Bossi’s Nachbild entnehmen lassen; abgesehen von dem allgemeinen
Ton des Lichtes und der Farben, der noch keineswegs verschwunden
ist, wird man nur hier den wahren Massstab, in welchem diese Ge-
stalten gedacht sind, die Örtlichkeit und die Beleuchtung kennen ler-
nen, vielleicht auch noch den Schimmer der Originalität, den nichts
ersetzen kann, über dem Ganzen schwebend finden.
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Die Scene, welche von der christlichen Kunst unter dem Namen
des Abendmahls, hauptsächlich als Wandbild in Klosterrefectorien,
dargestellt worden ist, enthält zwei ganz verschiedene Momente, beide
von jeher und von grossen Künstlern behandelt. Der eine ist die
Einsetzung des Sacramentes (eigenthümlich bei Signorelli, S. 809, b).
Der andere Moment ist das „Unus vestrum“; Christus spricht die Ge-
wissheit des Verrathes aus. Auch hier kann wieder, nach den Wor-
ten der Schrift, entweder die Kenntlichmachung des Verräthers durch
gleichzeitiges Ergreifen des einzutauchenden Bissens (wie bei Andrea
del Sarto, s. unten, Kloster S. Salvi), oder das blosse schmerzliche
Wort Christi das entscheidende Motiv sein. Letzteres bei Lionardo. —
Die Kunst hat kaum einen bedenklichern Gegenstand als diesen, die
Wirkung eines Wortes auf eine sitzende Versammlung. Nur ein
Strahl, in zwölfmaligem Reflex. Würde aber der geistige Inhalt da-
bei gewinnen, wenn die Zwölfe, leidenschaftlich bewegt, ihre Plätze
verliessen, um reichere Gruppen, grössere dramatische Gegensätze zu
bilden? Die Hauptsache, nämlich die Herrschaft der Hauptfigur,
welche doch nur sitzen und sprechen dürfte, ginge ob dem Handeln
der Übrigen unvermeidlich verloren. Selbst der gedeckte Tisch, der
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 865. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/887>, abgerufen am 18.12.2024.
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