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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Michelangelo.
sonst übrig blieb, waren Grabmäler, deren Allegorien das einzige
ganz freie Element der damaligen Sculptur heissen konnten. Denn
grosse Sculpturwerke mythologischen Inhalts waren noch ein seltener
Luxus, der ausserhalb Florenz einstweilen kaum vorkam.

Michelangelo aber war stärker als je ein Künstler von dem Drange
bewegt, alle irgend denkbaren und mit den höhern Stylgesetzen ver-
einbaren Momente der lebendigen, vorzüglich der nackten Menschenge-
stalt aus sich heraus zu schaffen. Er ist in dieser Beziehung das ge-
rade Gegentheil der Alten, welche ihre Motive langsam reiften und ein
halbes Jahrtausend hindurch nachbildeten; er sucht stets neue Mög-
lichkeiten zu erschöpfen und kann desshalb der moderne Künstler in
vorzugsweisem Sinne heissen. Seine Phantasie ist nicht gehütet und
eingeschränkt durch einen altehrwürdigen Mythus; seine wenigen bibli-
schen Figuren gestaltet er rein nach künstlicher Inspiration und seine
Allegorien erfindet er mit erstaunlicher Keckheit. Das Lebensmotiv,
das ihn beschäftigt, hat oft mit dem geschichtlichen Charakter, den
es beseelen soll, gar keine innere Berührung -- selbst in den Pro-
pheten und Sibyllen der Sistina nicht immer.

Und welcher Art ist das Leben, das er darstellt? Es sind in ihm
zwei streitende Geister; der eine möchte durch rastlose anatomische
Studien alle Ursachen und Äusserungen der menschlichen Form und
Bewegung ergründen und der Statue die vollkommenste Wirklichkeit
verleihen; der andere aber sucht das Übermenschliche auf und findet
es -- nicht mehr in einem reinen und erhabenen Ausdruck des Ko-
pfes und der Geberde, wie einzelne frühere Künstler -- sondern in
befremdlichen Stellungen und Bewegungen und in einer partiellen Aus-
bildung gewisser Körperformen in das Gewaltige. Manche seiner Ge-
stalten geben auf den ersten Eindruck nicht ein erhöhtes Menschliches,
sondern ein gedämpftes Ungeheures. Bei näherer Betrachtung sinkt
aber dieses Übernatürliche oft nur zum Unwahrscheinlichen und Bi-
zarren zusammen.

Sonach wird den Werken Michelangelo's durchgängig eine Vor-
bedingung jedes erquickenden Eindrucks fehlen: die Unabsichtlichkeit.
Überall präsentirt sich das Motiv als solches, nicht als passend-
ster Ausdruck eines gegebenen Inhaltes. Letzteres ist vorzugsweise
der Fall bei Rafael, der den Sinn mit dem höchsten Interesse an der

Michelangelo.
sonst übrig blieb, waren Grabmäler, deren Allegorien das einzige
ganz freie Element der damaligen Sculptur heissen konnten. Denn
grosse Sculpturwerke mythologischen Inhalts waren noch ein seltener
Luxus, der ausserhalb Florenz einstweilen kaum vorkam.

Michelangelo aber war stärker als je ein Künstler von dem Drange
bewegt, alle irgend denkbaren und mit den höhern Stylgesetzen ver-
einbaren Momente der lebendigen, vorzüglich der nackten Menschenge-
stalt aus sich heraus zu schaffen. Er ist in dieser Beziehung das ge-
rade Gegentheil der Alten, welche ihre Motive langsam reiften und ein
halbes Jahrtausend hindurch nachbildeten; er sucht stets neue Mög-
lichkeiten zu erschöpfen und kann desshalb der moderne Künstler in
vorzugsweisem Sinne heissen. Seine Phantasie ist nicht gehütet und
eingeschränkt durch einen altehrwürdigen Mythus; seine wenigen bibli-
schen Figuren gestaltet er rein nach künstlicher Inspiration und seine
Allegorien erfindet er mit erstaunlicher Keckheit. Das Lebensmotiv,
das ihn beschäftigt, hat oft mit dem geschichtlichen Charakter, den
es beseelen soll, gar keine innere Berührung — selbst in den Pro-
pheten und Sibyllen der Sistina nicht immer.

Und welcher Art ist das Leben, das er darstellt? Es sind in ihm
zwei streitende Geister; der eine möchte durch rastlose anatomische
Studien alle Ursachen und Äusserungen der menschlichen Form und
Bewegung ergründen und der Statue die vollkommenste Wirklichkeit
verleihen; der andere aber sucht das Übermenschliche auf und findet
es — nicht mehr in einem reinen und erhabenen Ausdruck des Ko-
pfes und der Geberde, wie einzelne frühere Künstler — sondern in
befremdlichen Stellungen und Bewegungen und in einer partiellen Aus-
bildung gewisser Körperformen in das Gewaltige. Manche seiner Ge-
stalten geben auf den ersten Eindruck nicht ein erhöhtes Menschliches,
sondern ein gedämpftes Ungeheures. Bei näherer Betrachtung sinkt
aber dieses Übernatürliche oft nur zum Unwahrscheinlichen und Bi-
zarren zusammen.

Sonach wird den Werken Michelangelo’s durchgängig eine Vor-
bedingung jedes erquickenden Eindrucks fehlen: die Unabsichtlichkeit.
Überall präsentirt sich das Motiv als solches, nicht als passend-
ster Ausdruck eines gegebenen Inhaltes. Letzteres ist vorzugsweise
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[667/0689] Michelangelo. sonst übrig blieb, waren Grabmäler, deren Allegorien das einzige ganz freie Element der damaligen Sculptur heissen konnten. Denn grosse Sculpturwerke mythologischen Inhalts waren noch ein seltener Luxus, der ausserhalb Florenz einstweilen kaum vorkam. Michelangelo aber war stärker als je ein Künstler von dem Drange bewegt, alle irgend denkbaren und mit den höhern Stylgesetzen ver- einbaren Momente der lebendigen, vorzüglich der nackten Menschenge- stalt aus sich heraus zu schaffen. Er ist in dieser Beziehung das ge- rade Gegentheil der Alten, welche ihre Motive langsam reiften und ein halbes Jahrtausend hindurch nachbildeten; er sucht stets neue Mög- lichkeiten zu erschöpfen und kann desshalb der moderne Künstler in vorzugsweisem Sinne heissen. Seine Phantasie ist nicht gehütet und eingeschränkt durch einen altehrwürdigen Mythus; seine wenigen bibli- schen Figuren gestaltet er rein nach künstlicher Inspiration und seine Allegorien erfindet er mit erstaunlicher Keckheit. Das Lebensmotiv, das ihn beschäftigt, hat oft mit dem geschichtlichen Charakter, den es beseelen soll, gar keine innere Berührung — selbst in den Pro- pheten und Sibyllen der Sistina nicht immer. Und welcher Art ist das Leben, das er darstellt? Es sind in ihm zwei streitende Geister; der eine möchte durch rastlose anatomische Studien alle Ursachen und Äusserungen der menschlichen Form und Bewegung ergründen und der Statue die vollkommenste Wirklichkeit verleihen; der andere aber sucht das Übermenschliche auf und findet es — nicht mehr in einem reinen und erhabenen Ausdruck des Ko- pfes und der Geberde, wie einzelne frühere Künstler — sondern in befremdlichen Stellungen und Bewegungen und in einer partiellen Aus- bildung gewisser Körperformen in das Gewaltige. Manche seiner Ge- stalten geben auf den ersten Eindruck nicht ein erhöhtes Menschliches, sondern ein gedämpftes Ungeheures. Bei näherer Betrachtung sinkt aber dieses Übernatürliche oft nur zum Unwahrscheinlichen und Bi- zarren zusammen. Sonach wird den Werken Michelangelo’s durchgängig eine Vor- bedingung jedes erquickenden Eindrucks fehlen: die Unabsichtlichkeit. Überall präsentirt sich das Motiv als solches, nicht als passend- ster Ausdruck eines gegebenen Inhaltes. Letzteres ist vorzugsweise der Fall bei Rafael, der den Sinn mit dem höchsten Interesse an der

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 667. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/689>, abgerufen am 16.07.2024.