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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Oberitaliener.
Begarelli hob nicht eine Bekanntschaft mit dem Alterthum, sondern
eine nahe und unverkennbare Kunstbeziehung zu Coreggio, wobei
man nicht einmal genau sagen kann, welcher Theil der gebende war;
sodann die allgemeine Kunsthöhe der Zeit. Seine Einzelformen sind
so schön, frei und reich, als diejenigen A. Sansovino's, denen sie nicht
gleichen. Allein diess ganze Vermögen steht im Dienste eines Geistes,
der gerade die höchsten Gesetze der Plastik so wenig anerkennt, als
Coreggio die der Malerei.

Allerdings muss man ihm sein Princip zugeben; er arbeitete seine
lebensgrossen Thongruppen nicht für freie Aufstellung, sondern für
ganz bestimmte Nischen und Capellen, d. h. als Bilder. An die
Stelle des streng geschlossenen Baues der Gruppe tritt eine rein ma-
lerische Anordnung für Einen Gesichtspunkt. Allein innerhalb dieser
Schranken hätte er wenigstens so streng bleiben müssen als die
strengere Malerei es muss; statt dessen überliess er sich bei einem
grossen Schönheitssinn doch sehr dem naturalistischen Schick und
Wurf, dem blossen Streben nach Lebendigkeit und Wirklichkeit. Sein
Gefühl selbst für bloss malerische Linien ist so wenig entwickelt als
dasjenige Coreggio's. Seine Körperbildungen sind meist gering, die
Haltung, sobald sie nicht in einem bestimmten Moment aufgeht, unent-
schieden und unsicher, sodass er in den zur freien isolirten Aufstel-
lung bestimmten Statuen weniger genügt als Manche, die sonst tief
unter ihm stehen.

Sein vielleicht frühstes Werk in Modena ist die Gruppe der um
aden todten Christus Weinenden in S. Maria pomposa (Piazza S.
Agostino, 1. Altar rechts). Hier ist er noch am meisten von Mazzo-
ni's Gruppe in S. Giovanni (S. 635, b) abhängig, sowohl in der Anord-
nung als in dem grimassirenden Ausdruck. -- Vielleicht folgt zunächst
bdas grosse Hauptwerk in S. Francesco (Cap. links vom Chor): die
Kreuzabnahme. Vier Personen, symmetrisch auf zwei Leitern geord-
net, senken den Leichnam nieder; unten die ohnmächtige Maria, von
drei Frauen gehalten und umgeben; ein knieender und ein stehender
Heiliger zu beiden Seiten. (Johannes d. T., Hieronymus, Franciscus
und Antonius von Padua.) Dass gerade der Moment der physischen
Anstrengung symmetrisch dargestellt ist, wirkt nicht glücklich; dafür
ist die Gruppe der Frauen malerisch vortrefflich und im Ausdruck

Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Oberitaliener.
Begarelli hob nicht eine Bekanntschaft mit dem Alterthum, sondern
eine nahe und unverkennbare Kunstbeziehung zu Coreggio, wobei
man nicht einmal genau sagen kann, welcher Theil der gebende war;
sodann die allgemeine Kunsthöhe der Zeit. Seine Einzelformen sind
so schön, frei und reich, als diejenigen A. Sansovino’s, denen sie nicht
gleichen. Allein diess ganze Vermögen steht im Dienste eines Geistes,
der gerade die höchsten Gesetze der Plastik so wenig anerkennt, als
Coreggio die der Malerei.

Allerdings muss man ihm sein Princip zugeben; er arbeitete seine
lebensgrossen Thongruppen nicht für freie Aufstellung, sondern für
ganz bestimmte Nischen und Capellen, d. h. als Bilder. An die
Stelle des streng geschlossenen Baues der Gruppe tritt eine rein ma-
lerische Anordnung für Einen Gesichtspunkt. Allein innerhalb dieser
Schranken hätte er wenigstens so streng bleiben müssen als die
strengere Malerei es muss; statt dessen überliess er sich bei einem
grossen Schönheitssinn doch sehr dem naturalistischen Schick und
Wurf, dem blossen Streben nach Lebendigkeit und Wirklichkeit. Sein
Gefühl selbst für bloss malerische Linien ist so wenig entwickelt als
dasjenige Coreggio’s. Seine Körperbildungen sind meist gering, die
Haltung, sobald sie nicht in einem bestimmten Moment aufgeht, unent-
schieden und unsicher, sodass er in den zur freien isolirten Aufstel-
lung bestimmten Statuen weniger genügt als Manche, die sonst tief
unter ihm stehen.

Sein vielleicht frühstes Werk in Modena ist die Gruppe der um
aden todten Christus Weinenden in S. Maria pomposa (Piazza S.
Agostino, 1. Altar rechts). Hier ist er noch am meisten von Mazzo-
ni’s Gruppe in S. Giovanni (S. 635, b) abhängig, sowohl in der Anord-
nung als in dem grimassirenden Ausdruck. — Vielleicht folgt zunächst
bdas grosse Hauptwerk in S. Francesco (Cap. links vom Chor): die
Kreuzabnahme. Vier Personen, symmetrisch auf zwei Leitern geord-
net, senken den Leichnam nieder; unten die ohnmächtige Maria, von
drei Frauen gehalten und umgeben; ein knieender und ein stehender
Heiliger zu beiden Seiten. (Johannes d. T., Hieronymus, Franciscus
und Antonius von Padua.) Dass gerade der Moment der physischen
Anstrengung symmetrisch dargestellt ist, wirkt nicht glücklich; dafür
ist die Gruppe der Frauen malerisch vortrefflich und im Ausdruck

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[646/0668] Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Oberitaliener. Begarelli hob nicht eine Bekanntschaft mit dem Alterthum, sondern eine nahe und unverkennbare Kunstbeziehung zu Coreggio, wobei man nicht einmal genau sagen kann, welcher Theil der gebende war; sodann die allgemeine Kunsthöhe der Zeit. Seine Einzelformen sind so schön, frei und reich, als diejenigen A. Sansovino’s, denen sie nicht gleichen. Allein diess ganze Vermögen steht im Dienste eines Geistes, der gerade die höchsten Gesetze der Plastik so wenig anerkennt, als Coreggio die der Malerei. Allerdings muss man ihm sein Princip zugeben; er arbeitete seine lebensgrossen Thongruppen nicht für freie Aufstellung, sondern für ganz bestimmte Nischen und Capellen, d. h. als Bilder. An die Stelle des streng geschlossenen Baues der Gruppe tritt eine rein ma- lerische Anordnung für Einen Gesichtspunkt. Allein innerhalb dieser Schranken hätte er wenigstens so streng bleiben müssen als die strengere Malerei es muss; statt dessen überliess er sich bei einem grossen Schönheitssinn doch sehr dem naturalistischen Schick und Wurf, dem blossen Streben nach Lebendigkeit und Wirklichkeit. Sein Gefühl selbst für bloss malerische Linien ist so wenig entwickelt als dasjenige Coreggio’s. Seine Körperbildungen sind meist gering, die Haltung, sobald sie nicht in einem bestimmten Moment aufgeht, unent- schieden und unsicher, sodass er in den zur freien isolirten Aufstel- lung bestimmten Statuen weniger genügt als Manche, die sonst tief unter ihm stehen. Sein vielleicht frühstes Werk in Modena ist die Gruppe der um den todten Christus Weinenden in S. Maria pomposa (Piazza S. Agostino, 1. Altar rechts). Hier ist er noch am meisten von Mazzo- ni’s Gruppe in S. Giovanni (S. 635, b) abhängig, sowohl in der Anord- nung als in dem grimassirenden Ausdruck. — Vielleicht folgt zunächst das grosse Hauptwerk in S. Francesco (Cap. links vom Chor): die Kreuzabnahme. Vier Personen, symmetrisch auf zwei Leitern geord- net, senken den Leichnam nieder; unten die ohnmächtige Maria, von drei Frauen gehalten und umgeben; ein knieender und ein stehender Heiliger zu beiden Seiten. (Johannes d. T., Hieronymus, Franciscus und Antonius von Padua.) Dass gerade der Moment der physischen Anstrengung symmetrisch dargestellt ist, wirkt nicht glücklich; dafür ist die Gruppe der Frauen malerisch vortrefflich und im Ausdruck a b

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 646. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/668>, abgerufen am 16.07.2024.