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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Antike Sculptur. Gruppen.

Für die höchste und schwierigste Aufgabe der Sculptur, für die
Bildung freistehender Gruppen, hat das Alterthum uns wenigstens
eine Anzahl von mehr oder weniger erhaltenen Beispielen hinterlassen,
in welchen die ewigen Gesetze dieser Gattung abgeschlossen vor uns
liegen, obwohl es nur arme, einzelne Reste von einem Gruppenreich-
thum sind, von welchem sich die jetzige Welt keinen Begriff macht.
Unter jenen Gesetzen sind einige, die auf den ersten Blick einleuch-
ten: der schöne Contrast der vereinigten Gestalten in Stellung, Kör-
peraxe, Handlung u. s. w.; die wohlthuenden Schneidungen und
Deckungen; die Deutlichkeit der Action für die Ansicht von mehrern
oder allen Seiten etc. etc. Schwer aber (und nur dem Bildhauer selbst
möglich) ist das Nachfühlen und Nachweisen des Gesetzmässigen in
allem Einzelnen. Wir begnügen uns daher, nur flüchtig auf den Kunst-
gehalt der in Italien vorhandenen antiken Gruppen hinzudeuten, und
beginnen mit dem Einfachsten (obwohl die Kunst vielleicht umgekehrt
mit dem quantitativ Reichsten, den Giebelgruppen der Tempel, mag
begonnen haben.)

Zum Einfachschönsten gehören einige Werke, welche zwei Ge-
stalten in ganz ruhiger geistiger Gemeinschaft darstellen. Das Aus-
gezeichnetste in dieser Art, die sog. Gruppe von San Ildefonso,
(die Genien des Schlafes und des Todes, nach der üblichsten Erklä-
rung, traulich aneinander gelehnt) befindet sich jetzt in Madrid; ein
aAbguss u. a. in der Academie de France zu Rom.

b

Ein ähnlicher schöner Sinn lebt in einer nur mittelmässig gear-
beiteten Gruppe des Museums von Neapel (zweiter Gang), welche
Orest und Elektra darstellt; sie stützt den linken Arm in die Hüfte
und legt ihm den rechten über die Schulter; er lässt den rechten Arm
hängen und gesticulirt mit dem linken. Contrast und Verbindung des
nackten und des bekleideten Körpers sind hier von schönster Erfin-
dung, der Ausdruck des trauten Verkehres vortrefflich mit wenigen
Mitteln wiedergegeben.

Wie hier Bruder und Schwester, so sind in einem berühmten
cWerke der Villa Ludovisi zu Rom (Hauptsaal) Mutter und Sohn, in
einem erregtern Moment, vielleicht des Abschiedes oder des Wieder-

Antike Sculptur. Gruppen.

Für die höchste und schwierigste Aufgabe der Sculptur, für die
Bildung freistehender Gruppen, hat das Alterthum uns wenigstens
eine Anzahl von mehr oder weniger erhaltenen Beispielen hinterlassen,
in welchen die ewigen Gesetze dieser Gattung abgeschlossen vor uns
liegen, obwohl es nur arme, einzelne Reste von einem Gruppenreich-
thum sind, von welchem sich die jetzige Welt keinen Begriff macht.
Unter jenen Gesetzen sind einige, die auf den ersten Blick einleuch-
ten: der schöne Contrast der vereinigten Gestalten in Stellung, Kör-
peraxe, Handlung u. s. w.; die wohlthuenden Schneidungen und
Deckungen; die Deutlichkeit der Action für die Ansicht von mehrern
oder allen Seiten etc. etc. Schwer aber (und nur dem Bildhauer selbst
möglich) ist das Nachfühlen und Nachweisen des Gesetzmässigen in
allem Einzelnen. Wir begnügen uns daher, nur flüchtig auf den Kunst-
gehalt der in Italien vorhandenen antiken Gruppen hinzudeuten, und
beginnen mit dem Einfachsten (obwohl die Kunst vielleicht umgekehrt
mit dem quantitativ Reichsten, den Giebelgruppen der Tempel, mag
begonnen haben.)

Zum Einfachschönsten gehören einige Werke, welche zwei Ge-
stalten in ganz ruhiger geistiger Gemeinschaft darstellen. Das Aus-
gezeichnetste in dieser Art, die sog. Gruppe von San Ildefonso,
(die Genien des Schlafes und des Todes, nach der üblichsten Erklä-
rung, traulich aneinander gelehnt) befindet sich jetzt in Madrid; ein
aAbguss u. a. in der Académie de France zu Rom.

b

Ein ähnlicher schöner Sinn lebt in einer nur mittelmässig gear-
beiteten Gruppe des Museums von Neapel (zweiter Gang), welche
Orest und Elektra darstellt; sie stützt den linken Arm in die Hüfte
und legt ihm den rechten über die Schulter; er lässt den rechten Arm
hängen und gesticulirt mit dem linken. Contrast und Verbindung des
nackten und des bekleideten Körpers sind hier von schönster Erfin-
dung, der Ausdruck des trauten Verkehres vortrefflich mit wenigen
Mitteln wiedergegeben.

Wie hier Bruder und Schwester, so sind in einem berühmten
cWerke der Villa Ludovisi zu Rom (Hauptsaal) Mutter und Sohn, in
einem erregtern Moment, vielleicht des Abschiedes oder des Wieder-

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[498/0520] Antike Sculptur. Gruppen. Für die höchste und schwierigste Aufgabe der Sculptur, für die Bildung freistehender Gruppen, hat das Alterthum uns wenigstens eine Anzahl von mehr oder weniger erhaltenen Beispielen hinterlassen, in welchen die ewigen Gesetze dieser Gattung abgeschlossen vor uns liegen, obwohl es nur arme, einzelne Reste von einem Gruppenreich- thum sind, von welchem sich die jetzige Welt keinen Begriff macht. Unter jenen Gesetzen sind einige, die auf den ersten Blick einleuch- ten: der schöne Contrast der vereinigten Gestalten in Stellung, Kör- peraxe, Handlung u. s. w.; die wohlthuenden Schneidungen und Deckungen; die Deutlichkeit der Action für die Ansicht von mehrern oder allen Seiten etc. etc. Schwer aber (und nur dem Bildhauer selbst möglich) ist das Nachfühlen und Nachweisen des Gesetzmässigen in allem Einzelnen. Wir begnügen uns daher, nur flüchtig auf den Kunst- gehalt der in Italien vorhandenen antiken Gruppen hinzudeuten, und beginnen mit dem Einfachsten (obwohl die Kunst vielleicht umgekehrt mit dem quantitativ Reichsten, den Giebelgruppen der Tempel, mag begonnen haben.) Zum Einfachschönsten gehören einige Werke, welche zwei Ge- stalten in ganz ruhiger geistiger Gemeinschaft darstellen. Das Aus- gezeichnetste in dieser Art, die sog. Gruppe von San Ildefonso, (die Genien des Schlafes und des Todes, nach der üblichsten Erklä- rung, traulich aneinander gelehnt) befindet sich jetzt in Madrid; ein Abguss u. a. in der Académie de France zu Rom. a Ein ähnlicher schöner Sinn lebt in einer nur mittelmässig gear- beiteten Gruppe des Museums von Neapel (zweiter Gang), welche Orest und Elektra darstellt; sie stützt den linken Arm in die Hüfte und legt ihm den rechten über die Schulter; er lässt den rechten Arm hängen und gesticulirt mit dem linken. Contrast und Verbindung des nackten und des bekleideten Körpers sind hier von schönster Erfin- dung, der Ausdruck des trauten Verkehres vortrefflich mit wenigen Mitteln wiedergegeben. Wie hier Bruder und Schwester, so sind in einem berühmten Werke der Villa Ludovisi zu Rom (Hauptsaal) Mutter und Sohn, in einem erregtern Moment, vielleicht des Abschiedes oder des Wieder- c

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/520>, abgerufen am 16.07.2024.