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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Michelangelo und Maderna.
und das Ganze überhaupt auf seine wesentlichen Formen reducirt, so
übt es einen architektonischen Zauber, der sich bei jedem Besuch
erhöht, nachdem der historische Phantasieeindruck längst seine auf-
regende Kraft verloren hat. Hauptsächlich das harmonische Zusam-
menwirken der zum Theil so ungeheuern Curven verschiedenen Ranges,
welche diese Räume um- und überspannen, bringt (wie ich glaube)
jenes angenehm traumartige Gefühl hervor, welches man sonst in
keinem Gebäude der Welt empfindet, und das sich mit einem ruhigen
Schweben vergleichen liesse. (Das Innere grosser gothischer Kathe-
dralen giebt den entgegengesetzten Eindruck eines unaufhaltsam raschen
"Aufwärts!" -- der ebenfalls unvergleichlich ist in seiner Art.)

Die nächsten Seitenräume und Eckcapellen sind wohl in der An-
lage nach Michelangelo's Entwurf gebaut, aber ihr ganzer Schmuck,
sowohl die Marmorbekleidung der Pfeiler und Wände als die Mo-
saiken und Statuen sind spätern Ursprunges und die Farbenwirkung
ist gewiss eine ganz andere als die, welche er beabsichtigte.

Doch im Grossen wich erst Carlo Maderna, auf Geheiss
Pauls V (seit 1605), von dem Plane Michelangelo's ab; durch den
Weiterbau des vordern Armes wurde das Kreuz wieder ein lateinisches
und die Kirche auch nach der Längendimension die grösste der Welt.
Unter dem Einfluss der damaligen Bauprincipien wurde das Mittel-
schiff möglichst weit und gross bei einer doch im Verhältniss nur
mässigen Länge; Maderna's Pfeiler stehen beträchtlich weiter aus-
einander als die der hintern, ältern Theile. Dafür wurden die Neben-
schiffe nur klein, und zwar in ovale Kuppelräume getheilt, an welche
sich Capellen, d. h. ziemlich flache Nischen anschliessen. Im dritten
Buche des Serlio sieht man, welche ganz andere Bedeutung Rafael
in seinem Plan eines lateinischen Kreuzes diesen Partien im Verhält-
niss zu dem ungleich schmälern Mittelschiff zugedacht hatte. In Ma-
derna's Bau verhindert überdiess die beträchtliche Breite der Pfeiler
den reichern Einblick in die Nebenschiffe, sodass diese für die Wirkung
im Grossen kaum in Betracht kommen. -- Aussen ging der vordere
Anblick der Kuppel für jeden nahen Gesichtspunkt verloren, und es
musste eine neue Fassade componirt werden, diessmal als breite
Fronte, indem die Rücksicht auf die drei übrigen abgerundeten Arme
des Kreuzes wegfiel. Von aller Beziehung zur Kuppel und zum Rest

B. Cicerone. 22

Michelangelo und Maderna.
und das Ganze überhaupt auf seine wesentlichen Formen reducirt, so
übt es einen architektonischen Zauber, der sich bei jedem Besuch
erhöht, nachdem der historische Phantasieeindruck längst seine auf-
regende Kraft verloren hat. Hauptsächlich das harmonische Zusam-
menwirken der zum Theil so ungeheuern Curven verschiedenen Ranges,
welche diese Räume um- und überspannen, bringt (wie ich glaube)
jenes angenehm traumartige Gefühl hervor, welches man sonst in
keinem Gebäude der Welt empfindet, und das sich mit einem ruhigen
Schweben vergleichen liesse. (Das Innere grosser gothischer Kathe-
dralen giebt den entgegengesetzten Eindruck eines unaufhaltsam raschen
„Aufwärts!“ — der ebenfalls unvergleichlich ist in seiner Art.)

Die nächsten Seitenräume und Eckcapellen sind wohl in der An-
lage nach Michelangelo’s Entwurf gebaut, aber ihr ganzer Schmuck,
sowohl die Marmorbekleidung der Pfeiler und Wände als die Mo-
saiken und Statuen sind spätern Ursprunges und die Farbenwirkung
ist gewiss eine ganz andere als die, welche er beabsichtigte.

Doch im Grossen wich erst Carlo Maderna, auf Geheiss
Pauls V (seit 1605), von dem Plane Michelangelo’s ab; durch den
Weiterbau des vordern Armes wurde das Kreuz wieder ein lateinisches
und die Kirche auch nach der Längendimension die grösste der Welt.
Unter dem Einfluss der damaligen Bauprincipien wurde das Mittel-
schiff möglichst weit und gross bei einer doch im Verhältniss nur
mässigen Länge; Maderna’s Pfeiler stehen beträchtlich weiter aus-
einander als die der hintern, ältern Theile. Dafür wurden die Neben-
schiffe nur klein, und zwar in ovale Kuppelräume getheilt, an welche
sich Capellen, d. h. ziemlich flache Nischen anschliessen. Im dritten
Buche des Serlio sieht man, welche ganz andere Bedeutung Rafael
in seinem Plan eines lateinischen Kreuzes diesen Partien im Verhält-
niss zu dem ungleich schmälern Mittelschiff zugedacht hatte. In Ma-
derna’s Bau verhindert überdiess die beträchtliche Breite der Pfeiler
den reichern Einblick in die Nebenschiffe, sodass diese für die Wirkung
im Grossen kaum in Betracht kommen. — Aussen ging der vordere
Anblick der Kuppel für jeden nahen Gesichtspunkt verloren, und es
musste eine neue Fassade componirt werden, diessmal als breite
Fronte, indem die Rücksicht auf die drei übrigen abgerundeten Arme
des Kreuzes wegfiel. Von aller Beziehung zur Kuppel und zum Rest

B. Cicerone. 22
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[337/0359] Michelangelo und Maderna. und das Ganze überhaupt auf seine wesentlichen Formen reducirt, so übt es einen architektonischen Zauber, der sich bei jedem Besuch erhöht, nachdem der historische Phantasieeindruck längst seine auf- regende Kraft verloren hat. Hauptsächlich das harmonische Zusam- menwirken der zum Theil so ungeheuern Curven verschiedenen Ranges, welche diese Räume um- und überspannen, bringt (wie ich glaube) jenes angenehm traumartige Gefühl hervor, welches man sonst in keinem Gebäude der Welt empfindet, und das sich mit einem ruhigen Schweben vergleichen liesse. (Das Innere grosser gothischer Kathe- dralen giebt den entgegengesetzten Eindruck eines unaufhaltsam raschen „Aufwärts!“ — der ebenfalls unvergleichlich ist in seiner Art.) Die nächsten Seitenräume und Eckcapellen sind wohl in der An- lage nach Michelangelo’s Entwurf gebaut, aber ihr ganzer Schmuck, sowohl die Marmorbekleidung der Pfeiler und Wände als die Mo- saiken und Statuen sind spätern Ursprunges und die Farbenwirkung ist gewiss eine ganz andere als die, welche er beabsichtigte. Doch im Grossen wich erst Carlo Maderna, auf Geheiss Pauls V (seit 1605), von dem Plane Michelangelo’s ab; durch den Weiterbau des vordern Armes wurde das Kreuz wieder ein lateinisches und die Kirche auch nach der Längendimension die grösste der Welt. Unter dem Einfluss der damaligen Bauprincipien wurde das Mittel- schiff möglichst weit und gross bei einer doch im Verhältniss nur mässigen Länge; Maderna’s Pfeiler stehen beträchtlich weiter aus- einander als die der hintern, ältern Theile. Dafür wurden die Neben- schiffe nur klein, und zwar in ovale Kuppelräume getheilt, an welche sich Capellen, d. h. ziemlich flache Nischen anschliessen. Im dritten Buche des Serlio sieht man, welche ganz andere Bedeutung Rafael in seinem Plan eines lateinischen Kreuzes diesen Partien im Verhält- niss zu dem ungleich schmälern Mittelschiff zugedacht hatte. In Ma- derna’s Bau verhindert überdiess die beträchtliche Breite der Pfeiler den reichern Einblick in die Nebenschiffe, sodass diese für die Wirkung im Grossen kaum in Betracht kommen. — Aussen ging der vordere Anblick der Kuppel für jeden nahen Gesichtspunkt verloren, und es musste eine neue Fassade componirt werden, diessmal als breite Fronte, indem die Rücksicht auf die drei übrigen abgerundeten Arme des Kreuzes wegfiel. Von aller Beziehung zur Kuppel und zum Rest B. Cicerone. 22

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/359>, abgerufen am 18.05.2024.